Mit geübten und nahezu lautlosen Bewegungen kletterten die Wesen entlang der senkrechten Felswand hoch bis zur obersten Kante. Koros' Truppen befanden sich indes in einem heillosen Durcheinander. Hastig wurden neue Seile für die Ersatzbrücke geknotet. Es wurde viel geschrien und kommandiert. Keiner verschwendete einen Blick auf die Schlucht.
Der perfekte Moment für einen Überraschungsangriff.
Vorsichtig lugten die Echsenköpfe über den Hang. Ihre großen Krallen boten ihnen sicheren Halt an der zerklüfteten Steilwand.
Auf der anderen Seite der Schlucht, der Ahnen-Seite, nahm man das Auftauchen der Wächter von Valheel mit einer Mischung aus Ehrfurcht und freudiger Überraschung zur Kenntnis.
Eines der Reptilien öffnete sein schleimiges Maul, das eine spitze rosarote Zunge enthüllte. Das Riesenvieh rollte den Zungen-Fleischberg nach hinten ein. Eine kleine Öffnung kam zum Vorschein. Die Echse atmete zischend ein, hielt kurz inne und presste dann mit der eingezogenen Luft einen halben Meter langen Dornenpfeil aus der Öffnung in ihrem Unterkiefer.
Der Pfeil rauschte durch die Luft und durchbohrte eines der Borus. Das Gift, das der Dorn an seiner Spitze mit sich führte, ließ das Boru auf der Stelle umfallen und sterben.
Koros war der Erste, der übermenschlich schnell herumfuhr und dem ungebetenen Besucher in die riesigen, kalten Augen starrte.
»An die Waffen! Wir haben ungebetene Gäste«, brüllte er.
Sogleich kletterten die restlichen Echsen aus ihrer Deckung und machten eine Drohgebärde, indem sie sich auf die Hinterbeine stellten und ihre Vorderkrallen ausfuhren.
Die Echsen rollten ebenfalls ihre Zungen nach hinten und ließen einen wahren Dornenhagel über ihre Opfer prasseln. Keiner der Dornenspeere verfehlte sein Ziel. Einer nach dem anderen fielen Koros’ Kämpfer den Giftpfeilen zum Opfer. Manche von den kleineren Geschöpfen der Finsteren Ebenen und einige Greifer wurden durch die Wucht des Aufpralls mehrere Meter durch die Luft geschleudert.
Nur mit Mühe gelang es dem Herrscher in dem Chaos hinter einem der Katapulte, die weiter im Landesinneren standen, Schutz zu suchen.
Einer der Gedankenwandler hetzte per Telepathie seine ganze Rotte von Piktins auf eine der Echsen. Kampfeslustig stürzten sich die Fleischfresser auf das Reptil und verbissen sich in ihm wie im Rausch.
Überrascht verlor die Echse ihr Gleichgewicht, taumelte und fiel rückwärts in die Schlucht, so als ob ein Baum gefällt worden wäre. Sämtliche Piktins, die sich festgebissen hatten, teilten das Schicksal des Wächters.
Zur Strafe wurde der Gedankenwandler von einem besonders langen Dorn eines anderen Wächters getroffen und machte daraufhin seinen letzten Atemzug.
Einige Gorgens versuchten durch einen Angriff aus dem Hinterhalt bei den verbliebenen Echsen Schaden anzurichten, allerdings mit wenig Erfolg.
»Richtet das Katapult auf sie! Beeilung!«, schrie Koros, dessen Stimme sich überschlug.
»Aber dann würden wir auf unsere Leute schießen!«, erwiderte der Katapultführer, neben dem Koros Deckung suchte.
»Das interessiert mich doch nicht! SCHIESST!«, brüllte Koros panisch.
Das Katapult, hinter dem er kauerte, wurde von zwei Kreaturen bedient. Einem Tabis und einem Toba.
Es waren Wesen, die nur gemeinsam agierten. Zu jedem Tabis, der in den Finsteren Ebenen lebte, gehörte ein Toba. Und zu jedem Toba gehörte ein Tabis. Das war so etwas wie ein Naturgesetz. Tabis ähnelten Füchsen, nur, dass sie auf zwei Beinen laufen konnten und fast so groß wie Menschen waren.
Toba waren etwa dreimal so groß wie Tabis. Und dreimal so hässlich.
Und noch etwas zeichnete das ungleiche Paar aus: Sie konnten sich gegenseitig nicht ausstehen.
»Na los! Du hast gehört, was der Herrscher gesagt hat«, rief der Tabis zu seinem größeren Gegenstück.
Widerwillig drehte der Toba an einer quietschenden Kurbel, sodass sich der Katapultaufbau in Richtung der tödlichen Reptilien bewegte.
»Schießt doch endlich!«, schrie Koros. »FEUER!«
Der Tabis betätigte den Auskopplungshebel der Schleuder.
In einem steilen Winkel wurde daraufhin eine kleine Kugel in die Höhe getrieben.
Tabis waren Profis in Sachen Katapulte. Die Kugel schlug vor den Echsen ein. Sie schauten irritiert auf das unscheinbare kleine Geschoss herab.
Ein kurzer Augenblick der stillen Verwirrung folgte. Dann explodierte die Kugel. Es gab aber kein Feuer und keinen Rauch. Eine Druckwelle, die einen Fels mit einem Schlag hätte wegsprengen können, erfasste die restlichen drei Reptilien mit einem dumpfen Donner und schmetterte sie wie Spielzeug durch die Luft. Bewusstlos von dem gewaltigen Schlag flogen sie weit über die Schlucht.
Fast genau in der Mitte übernahm die Schwerkraft den Rest und sog die Echsen wie Steine in den Abgrund.
Einige der Gorgens hatte es ebenfalls erwischt. Alle anderen, die weiter entfernt von der Explosion gewesen waren, wurden von den Füßen gerissen.
Danach folgte Stille.
Todesstille.
Nachdem sich die Benommenheit bei ihm gelegt hatte, galt Koros' einzige Sorge seiner Ersatzbrücke. Sie war nur leicht beschädigt worden. Nichts, was man nicht reparieren konnte.
Auf der anderen Seite waren Lois und seine Mitstreiter gezwungen gewesen, alles mit anzusehen. Für die Bewohner der Ahnenländer waren die Wächter heilig. Es waren gottgleiche Wesen. Und nun waren sie mit einem Augenschlag vernichtet.
Das Entsetzen war grenzenlos.
Plötzlich spürte Lois, wie der Herrscher wieder in seinen Kopf eindrang.
»Sieh, was ich vollbracht habe! Deine Götter sind tot. Alle tot! Sie werden dir nicht mehr helfen. Alle Hoffnung ist verloren. Begreifst du jetzt, dass mich niemand aufhalten kann? Wer wird dich jetzt noch retten?
Sag mir, wer? «
Nach der Attacke der Echsen mit den Lanzen, die aus ihren Mäulern geschossen waren, musste Haif sich verbieten, diesen unheilvollen Ort fluchtartig zu verlassen. Seit dem Eintreffen des Herrschers hatte er sich nicht einen Millimeter von seinem Versteck wegbewegt.
Er wünschte sich, er hätte nicht alles sehen müssen, was sich in den letzten Mondstunden vor seinen entsetzten Augen abgespielt hatte. Die Schreie, die sich in sein Gedächtnis einbrannten und fortan von seinem Unterbewusstsein immer wieder hochgespült wurden. Es war wohl das Grausamste, das er je erlebt hatte. Und Koros war das grausamste Wesen, dem er je begegnet war.
Den einzigen Trost, den Haif fand, war, dass er durch seine akribischen Beobachtungen wertvolle Informationen sammeln konnte. Das betraf vor allen Dingen Pais. Der Herrscher hatte dessen Verstand irgendwie manipuliert. Er hatte sein Denken verändert. Daran bestand für den kleinen Sortaner mit dem schmutzigen Fell kein Zweifel mehr.
Als sämtliche Augen auf die Echsen gerichtet waren, hätte er die Gelegenheit beim Schopfe packen und Pais da raus holen können. Aber nachdem dieser mit seiner Armbrust auf die gegenüberliegende Seite geschossen hatte, entschied sich Haif dagegen. Er selbst wäre wahrscheinlich das nächste Ziel der Schusswaffe des Menschen geworden.
Es musste eine andere Lösung her. Doch je länger Haif zögerte, desto unwahrscheinlicher wurde eine weitere Gelegenheit, Pais zu befreien.
Wenn Haif seine Situation einigermaßen realistisch betrachtete, dann gab es im Grunde nichts, was er ausrichten konnte, ohne dabei sein Leben zu verlieren oder das Leben des Menschen zu gefährden.
Was mochte nur im Kopf von Pais vorgehen? Wie war es möglich, ihn wieder zu Verstand zu bringen? Aber die nahe liegendste Frage war: Was machte Haif eigentlich noch hier? Es war doch völlig sinnlos! Gegen diese unsichtbaren Mächte, über die Koros verfügte, war er, der kleine, ängstliche Hasenfuß Haif Haven doch machtlos.
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