»Das Wesen ist in der langen Zeit der Isolation wahnsinnig geworden. Es weiß nicht, dass die Welt sich verändert hat und dass die Bewohner, die darauf leben, andere sind. Es ist nur von blinder Rachsucht getrieben. Vergiss nicht, Antilius: Der Dunkelträumer hat fast tausend Jahre in der Einsamkeit verbracht, weit außerhalb allen Lebens«, sagte Furcht und schwebte ein Stück näher an Antilius heran. »Es ist unvorhersehbar, was geschehen wird, wenn dem Dunkelträumer die Rückkehr gelingt und er Ilbétha findet. Seine Macht ist dann so gewaltig, dass er, selbst wenn er es nicht will, mit einem einzigen Gedanken den gesamten Planeten zerstören, vielleicht sogar das ganze Universum vernichten könnte.«
Antilius horchte verwirrt auf. »Moment! Ilbétha? Wer ist das?«
Die drei Antilius-Gesichter, die das Orakel repräsentierten, schauten einen Moment einander an. Sie schienen telepathisch miteinander zu reden. Sie überlegten, ob sie ihr Wissen mit dem echten Antilius teilen wollten.
Schließlich sagte Furcht: »Ilbétha ist der wahre Grund, warum der Dunkelträumer zurückkehren will. Sie ist der Grund, warum der Dunkelträumer zu einem gefährlichen Monstrum werden kann. Ilbétha ist älter als das Universum selbst. Sie ist irgendwo auf Thalantia gefangen und doch weiß niemand mehr, dass es sie gibt, geschweige denn, wo sie sich befindet. Kein sterbliches Wesen hat jemals Ilbéthas wahres Antlitz erblickt. Und so soll es auch bleiben, Antilius. Wir selbst wissen von Ilbétha auch nur aus einer Überlieferung unseres Vorgängers.
Der Dunkelträumer darf Ilbétha nicht finden. Du darfst niemandem erzählen, was wir dir hiermit anvertraut haben. Niemandem! Hast du das verstanden?«
Es fiel Antilius schwer zu begreifen, worum es ging, und er hätte gerne mehr erfahren über Ilbétha und über den Dunkelträumer. Aber er versprach, die spärlichen Informationen für sich zu behalten.
Antilius schloss die Augen und atmete tief durch. »Und warum soll ich der Einzige sein, der Koros aufhalten kann?«
»Du bist der Letzte, der die Augen besitzt. Wir haben es jedenfalls nicht vermocht, jemand anderen aufzuspüren, der die Augen hat.«
»Was ist mit meinen Augen?«
»Die Überlieferung besagt, dass derjenige, der die Augen hat, die Fähigkeit besitzt, den Transzendenten und den Dunkelträumer zurückzuweisen. Die Augen des Auserwählten, die im Mondlicht des Mondes Quathan silbern leuchten. Dieses Wesen bist du, Antilius. Wir spüren es. Der Sandling hat es gespürt. Und auch Koros weiß von deinen Augen«, sagte Wissen.
Antilius schüttelte verwirrt den Kopf. »Tut mir leid, aber meine Augen leuchten nicht im Mondlicht. Das wäre bestimmt mir oder jemand anderem aufgefallen.«
»Weil du noch zu wenig über dich selbst weißt, leuchten sie nicht. Weil du nicht glaubst«, sagte Hoffnung und wechselte dann mit seinen Artgenossen ein paar fragende Blicke.
Hoffnung war selbstverständlich von Antilius’ Fähigkeiten überzeugt. Wissen nahm bezüglich der Erfolgsaussichten keine Stellung.
Furcht tat das, wozu er bestimmt war: »Er wird es nie schaffen. Unmöglich! Er glaubt nicht. Er ist hin- und hergerissen. Seine Zweifel blockieren seine Fähigkeiten. Er wird scheitern. Ganz bestimmt«, hechelte Furcht panisch.
»Sei still! Du entscheidest nicht für ihn. Er weiß ganz genau, worauf er sich einlässt. Er lässt sich nicht von seiner Furcht, nicht von dir leiten«, erwiderte Hoffnung.
Antilius verfolgte den Streit seiner beiden Ebenbilder mit Argwohn. Er hing an einer Felswand und wurde Zeuge eines Konfliktes zweier Motive seiner selbst. Das war mehr als surreal.
»Hört auf!«, fuhr er schließlich dazwischen. »Wenn ich Koros besiegen soll, muss ich ihn verstehen. Warum besitzt er diese Fähigkeiten wie die Telepathie und die Macht, in die Träume anderer einzudringen?«
»Koros hat diese Fähigkeiten geerbt. Sie stammen noch aus jener Zeit, in welcher der Dunkelträumer auf Thalantia gelebt hat. Allerdings schwinden diese Fähigkeiten mit jeder neuen Generation immer mehr. Es gibt heute nur noch sehr wenige, die derartige Fähigkeiten besitzen und viele, die sie in sich tragen, sind sich ihrer gar nicht bewusst. Koros jedoch hat seine Fähigkeit früh erkannt und kultiviert. Deshalb glaubt er, er sei auserwählt, zum Transzendenten zu werden.«
Antilius nickte nachdenklich. »Wie kann ich Koros vernichten? Und bitte: Einen klar verständlichen Vorschlag will ich hören und keine vagen Andeutungen.«
»Niemand wird dir sagen können, wie man ihn besiegen kann. Du bist auf dich allein gestellt. Das Einzige, was wir vorhergesehen haben, ist, dass du eine Entscheidung treffen musst«, sagte Wissen ausdruckslos.
»Was für eine Entscheidung?«
»Das Bild aus der Zukunft war zu vage. Zu ungenau.«
»Na toll! Dann hat es sich ja gelohnt, herzukommen«, sagte Antilius missmutig.
»Siehst du! Ich habe ja gesagt, dass er aufgeben würde«, ereiferte sich Furcht.
»Schweig! Ich werde nicht aufgeben«, fuhr Antilius Furcht an.
»Antilius, du hast deinen Feind kennengelernt. Dreimal hast du mit ihm gesprochen. Nutze seine Schwächen, die du erspürt hast. Überrasche ihn mit dem, was er am wenigsten erwartet«, sagte Wissen eindringlich.
Antilius war zwar ziemlich sauer, weil er wieder einmal im Dunkeln tappte. Doch Wissens Hinweis war für ihn mehr als nur eine vage Formulierung.
Koros mit demjenigen überraschen, das er am wenigsten erwartete? Das ergab einen Sinn. Endlich!
»Wie kann ich zurückkehren?«, fragte er.
»Wenn du bereit bist, dann werden wir dich zurück in deine Welt bringen. Doch zögere nicht mehr allzu lange. Es wird bald soweit sein. Das Portal steht kurz davor, geöffnet zu werden.«
Antilius hing eine ganze Weile schweigend an der Felswand und dachte nach. Seine drei Ebenbilder schauten ihn dabei hoffnungsvoll an. Dann ganz langsam entwickelte sich ein Plan in seinem Kopf.
Ja. Ja, so könnte es gehen.
»Ich habe nicht vor, noch länger zu zögern. Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Doch ich muss euch noch um einen Gefallen bitten«, sagte er hellwach.
»Sprich!«, forderte ihn Wissen bereitwillig auf.
»Koros ist nicht allein. Seine Leute werden mich nicht an ihn heranlassen. Aber ich muss an ihn heran.«
»Sie werden dich töten, bevor du auch nur seinen Namen rufen kannst«, jammerte Furcht.
»Da stimme ich Furcht ausnahmsweise zu. Deshalb werde ich Unterstützung brauchen.«
»Was hast du dir vorgestellt?«
»Es gibt da jemanden, der mir helfen könnte.« Antilius erklärte, wie er vorgehen wollte. Furcht wendete ein, dass dieser Plan viel zu gefährlich sei. Nicht nur gefährlich für Antilius, sondern gefährlich für das Orakel. Doch da Furcht in diesem Moment ein Teil von Antilius war, spürte Furcht, dass er seinem Original vertrauen musste. Antilius war sich nicht sicher, ob das Orakel das fertig bringen konnte, was er verlangte. Doch alle Stimmen des Orakels versicherten ihm, dass es möglich wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, auch wenn es dem Orakel sehr viel Lebensenergie entziehen würde. Aber es wäre bereit, es zu tun.
Auch wenn es dabei selbst sterben könnte.
Kaum war das donnernde Echo der herabgestürzten Brücke in der Barriere von Valheel verklungen, kletterten lautlos grünbraune, echsengleiche Kreaturen die Felswände empor. Sie wollten nachsehen, wer sie gestört hatte. Wer sie aus ihrem endlos scheinenden Schlaf gerissen hatte. Und sie wollten sich für diese Frechheit rächen.
Es waren vier Echsen. Jede von ihnen war aufgerichtet über fünfzehn Meter groß.
Sie sahen nicht unbedingt aus, wie man sich Echsen als Überbleibsel aus der Urzeit vorstellt. Sie waren gereifter und intelligenter. Sie konnten miteinander kommunizieren. Ihr Kopf schimmerte dabei in einem leichten Rot.
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