Du, Antilius, würdest niemals, weder das leiseste Flüstern vernehmen noch das Buch lesen können. Und das ist der Grund, warum du etwas Besonderes bist.
Du bist für mich die andere Seite der Schlucht. Für mich auf ewig unerreichbar. Und vielleicht auch für mich gefährlich.«
Antilius dachte über diese Worte nach. »Ich gehe davon aus, dass du mir nicht verraten wirst, was du in diesem Buch über mich gelesen hast, oder?«
»Ich kann es dir nicht sagen, Antilius. Wenn ich es tun würde, dann gefährdete ich mein eigenes Vorhaben. Das Buch hat mich vor dir gewarnt. Aber jetzt, da ich sicher sein kann, dass du dich wahrhaftig an nichts erinnern kannst, was für mich von Bedeutung ist, kann ich dich noch leben lassen. Trotzdem werde ich dich im Auge behalten.« Koros machte eine kurze Pause. Dann begann er listig zu grinsen und fügte hinzu: »Es gibt aber auch einen anderen Grund, warum ich dir nichts erzählen möchte. Würde ich dir die Wahrheit über deine Vergangenheit erzählen, dann bin ich mir sicher, dass du schlagartig deinen Verstand verlieren würdest.«
Antilius presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ein Teil von ihm wollte Koros nicht glauben. Aber der andere Teil glaubte ihm, und das machte Antilius wütend. »Jetzt glaubst du, dass du Macht über mich hast, und es bereitet dir einen perversen Spaß, habe ich nicht recht?«
Koros schien von Antilius’ Vorwurf tatsächlich getroffen zu sein. Eine Geste, die bei ihm sehr selten war. »Ich gebe zu, dass es verlockend ist, dich im Ungewissen über die zukünftigen Ereignisse zu lassen. Aber auch ich bin nicht übermächtig. Noch nicht. So ist es mir nicht möglich, deine Zukunft vorherzusagen. Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich mit dir am Ende machen werde. Wenn das neue Zeitalter anbricht. Mein Zeitalter.
Aber ich will noch abwarten. Ich kann dich bislang nur in deinen Träumen erreichen. Aber ich kann keinen telepathischen Kontakt zu dir aufnehmen, wenn du wach bist, Antilius. Weil du etwas Besonderes bist. Und deshalb rate ich dir, dich aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten. Wenn du unbedingt Brelius finden möchtest, dann habe ich keine Einwände, sollte er noch leben, was ich jedoch stark bezweifle. Aber halte dich vom Zeittor fern.
Das Flüsternde Buch hat mir von dir erzählt. Es hat mir von deinen Augen erzählt. Und es hat mir erzählt, dass mit diesen Augen etwas Besonderes, Einzigartiges verbunden ist.
Und ich will, dass genau diese einzigartigen Augen, deine Augen sehen, was ich vollbringen werde.«
»Vollbringen?«, fragte Antilius und fühlte plötzlich, wie etwas an seinem Arm zog. Etwas Unsichtbares rüttelte an ihm und wollte ihn nicht loslassen. Dann verspürte er ein schummeriges Gefühl in seinem Kopf. Er war im Begriff aufzuwachen. Er hatte völlig vergessen, dass er sich in seinem eigenen Traum befand.
Der Himmel wurde blass. Alles verschwamm vor seinen Augen.
»Ich freue mich schon auf unser nächstes Zusammentreffen«, sagte Koros und löste sich zusammen mit dem Hintergrund in nichts auf.
Pais rüttelte Antilius mitten in der Nacht unsanft aus dem Schlaf.
»Was ist los?«
Pais stand mit gezückter Armbrust neben ihm und hatte die Ohren gespitzt. »Wir sind nicht allein«, flüsterte er.
»O, nicht schon wieder«, murmelte Antilius in Erinnerung an seine letzte nächtliche Begegnung mit den Gorgens.
Die Nacht war kalt und klar. Die Wolken, die noch am Morgen ihre Wasserfontänen auf die Erde ergossen hatten, waren den Tag über langsam immer weniger geworden und in der Dämmerung bis auf wenige Einzelgänger verschwunden. So konnte der große Mond Quathan in aller Stille sein blasses silbriges Licht verbreiten, sodass man zumindest ein wenig sehen konnte.
»Gorgens?«, fragte Antilius und steckte sich Gilberts Spiegel, den er zum Schlafen beiseitegelegt hatte, wieder in die Brusttasche.
»Weiß ich nicht. Es kam aus den Bäumen.« Pais schaute in den Wald, an dessen Rand sich das Nachtlager befand.
Mittlerweile war auch Haif wach geworden und sprang ängstlich auf. »Ist dieses fliegende Gesindel wieder hier?«
»Psst!« Pais wollte verhindern, dass sie sich durch die Stimmen verrieten.
Dann erklang ein gellender animalischer Schrei von irgendetwas, das noch weit entfernt war, aber es kam diesmal nicht aus dem Wald, sondern aus der gegenüberliegenden Richtung.
Alle drei drehten sich um.
Es kam irgendwo aus der Ferne. Durch das Mondlicht konnte man weit in die Ebene hineinschauen, doch nichts war zu sehen.
»Was war das?«, Antilius war sich sofort klar, dass es sich nicht um einen Gorgen handelte.
»Piktins«, sagte Pais kühl.
Der halb unterdrückte Schrei kam wieder, wiederholte sich und klang diesmal aber anders. Und die Schreie wurden lauter. Zwei Schreie. Zwei Piktins.
Ein drittes Kreischen folgte. Und dann drei Schreie auf einmal.
»Nichts zu sehen.«
Antilius machte Anstalten, in die Hocke zu gehen, um aus seinem Rucksack seine Petroleumlampe herauszuholen, aber Pais bedeutete ihm, er solle sich nicht bewegen.
»Licht wird uns bei diesen Kreaturen nichts nützen«, sagte er.
»Wo sind sie?«, fragte Antilius, bereit die Flucht zu ergreifen.
»Sie tarnen sich. Sie können sich an ihre Umgebung anpassen. Wir müssen zusammen bleiben. Sie lieben es, ihre Beute auseinander zutreiben. Das dürfen wir nicht zulassen.«
Haif fing an, in Panik zu geraten: »O, nein! Das kann doch nicht das Ende sein! Das darf nicht wahr sein! Das habe ich nicht verdient. Wäre ich bloß nicht mit euch gegangen. Hätte ich mich bloß von euch ferngehalten! Ihr bringt mir nur Unglück.«
»Sei still, du Narr oder du bist der Erste, den sie verspeisen«, fauchte Pais.
Haif verstummte daraufhin. Die Angst lähmte sein Sprechvermögen. Sein Körperfell richtete sich auf, und er sah aus, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
Das Kreischen wurde lauter und wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen.
»Wieso können wir sie nicht sehen?«
»Sie können sich fast unsichtbar machen, wenn sie wollen. Dicht zusammenbleiben!«, befahl Pais ruhig und hoch konzentriert.
Die Schreie bewegten sich immer dichter an sie heran, aber sie konnten die Angreifer nicht ausfindig machen. Der Mond schien helfen zu wollen, indem er so hell strahlte, wie er es selten tat, aber es nützte nichts. Die gefräßigen Tiere blieben unsichtbar.
Haif versuchte, sich hinter Antilius und Pais zu verstecken. Da er nur halb so groß war wie die beiden, glaubte er, dort wenigstens ein bisschen Schutz zu bekommen.
Und genau ihn hatte eines der angaloppierenden Piktins im Visier. Piktins waren kaum größer als ein ausgewachsener Eber, aber kräftiger als eine Raubkatze und hungriger als ein Löwe.
Er hörte deutlich die galoppierenden Schritte der Tiere, doch sehen konnte er sie nicht.
Plötzlich verstummten die Geräusche und ebenso das Kreischen. Langsam, ganz langsam schlich sich eines der unsichtbaren Piktins an Haif heran. Sein Zittern verriet dem Räuber, dass er es mit einer leichten Beute zu tun hatte.
Die Köpfe von Antilius und Pais flogen planlos herum, doch es war vergebens. Die unsichtbare Gefahr verheimlichte ihre Gegenwart.
Haif stand nur starr und zitternd da. Das eine Piktin war nun nahe genug, um ihn von hinten mit einem Satz anzufallen. Es machte sich sprungbereit und ließ sich dabei viel Zeit. Einen Fehler wollte es jetzt nicht machen. Jetzt durch eine Unachtsamkeit seine Beute entwischen zu lassen, wäre ein Sakrileg. Auch die anderen beiden machten sich für einen Angriff bereit, wobei jeweils Antilius und Pais die erwählten Opfer waren.
Pais kannte das Jagdverhalten der Piktins, doch diese Methode war ihm neu. Diese Räuber, so wusste er, griffen nur von einer Seite an. Wieso blieben sie dann jetzt stehen? Zuerst dachte er, dass sie noch immer direkt vor ihnen lauern müssten, doch dann schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf, dass sie um ihre Opfer herumgeschlichen waren, um sie hinterrücks von der Waldseite aus anzugreifen. Dort, von wo man es am wenigsten erwartete.
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