Koros hätte der Stimme des Buches noch lange zuhören können, aber jetzt musste er sich um diesen Antilius kümmern. Er musste herausfinden, ob dieser seine Pläne durchkreuzen wollte. Er musste mehr über ihn erfahren.
Und dazu würde er ihn in seinen Träumen besuchen.
Die andere Seite der Schlucht
Antilius öffnete die Augen, ohne aus seinem unruhigen Schlaf zu erwachen. Er befand sich wieder in einem Traum, den Koros ihn träumen ließ. Nur dieses Mal war es anders als das erste Mal, als Koros ihn im Traum eine Schlucht hinuntergestürzt hatte. Antilius war sich nun bewusst, dass er träumte.
Doch er fühlte sich im Nachteil: Wieder hatte Koros den Schauplatz ausgewählt. Antilius befand sich auf einem kleinen Felsen in einem Ozean. Es war keine Insel, sondern nur ein kleines Stück Fels, das aus einem violett funkelnden Wasser ragte. Der Himmel war in ein brüllendes Rot getränkt, was eine aggressive Atmosphäre erzeugte.
In diesem Ozean, der nur eine Illusion war, gab es nichts außer dem Fels, Antilius und Koros Cusuar.
Während Antilius nach Orientierung suchend den Blick in die Ferne schweifen ließ, näherte Koros sich ihm wie aus dem Nichts von der Seite. Antilius musste sich nicht umsehen. Er war sich der Anwesenheit des merkwürdigen Herrschers bewusst. Er verspürte keine Furcht vor ihm, denn er wusste irgendwie, dass es nur ein Traum war.
»Was für ein grotesker Ort«, sagte Antilius. Es war, als ob er keine Kontrolle über seine Lippen hatte. Sie sprachen von selbst. Weil es ein Traum war.
»Ich habe schon ungewöhnlichere Orte als diesen gesehen. Ich hielt ihn für angemessen. Hier sind wir ungestört.«
»Ungestört? Dies ist doch ein Traum. Wer sollte uns stören?«
Koros rang sich ein Lächeln ab. »Wenn du wüsstest, wer alles in deine Träume eindringt, während du schläfst. Es gibt Wesen, die ihre Lebensenergie aus den Träumen beziehen. Glaube mir: Dieser Ort hier ist sicher. Nur hier sind wir ganz unter uns.«
Antilius schaute nun den Herrscher das erste Mal an. Dieser trug seinen dunklen Mantel, den er auch im ersten Traum schon getragen hatte. Sein Gesicht war nur schemenhaft zu erkennen.
Und unter dem rechten Arm hielt er ein Buch. Ein großes Buch.
»Du scheinst nicht überrascht zu sein, dass ich dich erneut aufgesucht habe?«, fragte Koros.
»Nein. Obwohl ich nicht weiß, wer du bist und was du von mir willst, habe ich es geahnt. Allerdings verblüfft es mich, dass du dich so nahe an mich heranwagst, im Gegensatz zum letzten Mal.«
Das verborgene Gesicht des Herrschers ließ einen misstrauischen Gesichtsausdruck erahnen. »Ich konnte dich noch nicht richtig einschätzen, Antilius. Aber du kannst stolz auf dich sein.«
»Stolz? Was meinst du damit?«, fragte Antilius verwirrt.
»Ich habe früher schon meine Gegner in ihren Träumen aufgesucht und im Traum zur Schlucht geführt und hinuntergestürzt. Einige sind aus diesem Traum nicht wieder erwacht, weil sie im Schlaf gestorben sind.« Koros Gesicht wurde jetzt für Antilius klarer. Er lächelte selbstzufrieden. »Für manche sind Träume so real, dass sie wirklich glaubten, sie fielen in die Schlucht und würden sterben. Also wie du siehst, kannst du stolz auf dich sein, dass du es überlebt hast.«
Antilius machte ein angewidertes Gesicht. »Was willst du von mir? Und was hast du da in deiner Hand?«, fragte er barsch.
Koros tat so, als ob er nicht genau wüsste, was Antilius meinte. »Was? Ach das. Mein Buch. Nun, dieses Buch ist so etwas wie mein bester Freund. Du fragst dich jetzt wahrscheinlich, dass dieses Buch gar nicht real sein kann, weil wir uns in einem Traum befinden, aber ich sage dir, dass dieses Buch real ist, denn es ist etwas ganz Besonderes. Es hat ein Bewusstsein. Es hat mich zu dir geführt, Antilius. Es hat mir von dir erzählt. Vielleicht solltest du mal einen Blick hineinwerfen.«
»Und wieso sollte ich das tun? Das ist bestimmt eine Falle. Hältst du mich für so naiv?«
»Ganz im Gegenteil. Ich halte dich keineswegs für naiv. Um Himmelswillen! Nein.«
Koros fasste sich mit spitzen Fingern an seine Stirn. »Lass es mich anders versuchen: Ich habe nicht vor, dich zu belügen. Ich habe dich auch noch nie belogen. Und ich schwöre dir, dass ich dich nie belügen werde. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich will dich nur ein wenig besser kennenlernen, das ist alles.«
Es war absurd, aber Antilius war versucht, seinem Gegenüber zu glauben.
»Weißt du, was in diesem Buch geschrieben steht, Antilius?«, fragte Koros neugierig.
»Nein, woher sollte ich?«
»In diesem Buch steht wirklich eine ganze Menge. Sehr aufschlussreiche Dinge. Es birgt das Wissen um die Macht der Transzendenz und wie ich sie erlangen werde.
Aber hier stehen auch Dinge über dich, Antilius. Es enthält deine Vergangenheit. All jenes, an das du dich nicht mehr erinnern kannst. Die vielen Jahre, die aus deinem Gedächtnis gelöscht wurden. Und als ich es gelesen habe, habe ich mich wirklich gewundert, dass du dich dessen nicht mehr entsinnen kannst. Bist du gar nicht neugierig, es zu lesen? Deswegen bist du doch nach Truchten gereist. Nicht um diesen merkwürdigen alten Kauz Brelius zu suchen, sondern um etwas über dich zu erfahren. Deswegen bist du hier. Versuche erst gar nicht, es zu leugnen, denn ich weiß, dass es so ist, Antilius. Du willst nichts sehnlicher, als es zu erfahren. Und es steht alles hier drin. Alles. Es ist ganz einfach. Du musst das Buch nur in die Hand nehmen. Ich biete dir diese Gelegenheit nur ein einziges Mal.« Koros machte bewusst eine lange Pause. »Nur ein einziges Mal, mein Freund. Wenn du jetzt ablehnst, dann für immer. Hast du das verstanden?
Also nimm es!«, sprach Koros mit gierigen Augen.
Er reichte Antilius das Buch. Er musste nur zugreifen.
Es ist ganz einfach.
Ganz einfach.
»Nimm es!«, rief eine innere Stimme Antilius zu. Die Neugier übermannte ihn.
Und er tat es.
Es war sehr alt. Die Seitenränder waren stark vergilbt. Es bestand aus ungefähr vierhundert oder fünfhundert Seiten. Der braune Buchrücken war unbeschriftet.
»Sieh hinein!«, flüsterte Koros auffordernd.
Antilius schlug die erste Seite auf. Dann blätterte er um. Und blätterte noch einmal. Er blätterte schließlich durch alle Seiten.
Sie waren alle leer. Nicht ein einziger Buchstabe. Nichts.
»Ich vermute, dass das kein Scherz sein soll«, mutmaßte Antilius misstrauisch und aufrichtig enttäuscht. Enttäuscht nicht darüber, dass es nichts zu lesen gab, sondern über sich selbst, dass er ernsthaft geglaubt hatte, Koros würde es ihm so leicht machen.
»Was hast du gelesen?«
»Nichts. Wie auch? Es ist ein leeres Buch.«
»Da siehst du es, Antilius. Das ist es, was ich dir zu erklären versuche. Dieses Buch ist nur für mich. Nur ich bin imstande, es zu lesen. Nur ich kann es verstehen. Es ist für mich bestimmt.« In den Augen des Herrschers leuchtete ein Hauch von Wahnsinn auf.
»Ich hoffe, du hattest deinen Spaß, mir ein leeres Buch in die Hand zu drücken«, sagte Antilius hasserfüllt.
»Sei nicht verärgert. Ich war mir nicht ganz sicher, ob du das Buch nicht doch lesen könntest. Oder ob es zu dir sprechen würde. Also habe ich es dir gegeben. Deine Chance, es lesen zu können, war also echt. Ich habe dich daher nicht belogen. Aber jetzt hat sich meine Vermutung bestätigt. Nur ich kann es lesen.«
»Und wieso nur du?«
»Das ist mir genauso ein Rätsel, wie du es mir bist. Doch höre mich weiter an: Das Buch versucht jeden anzusprechen. Sogar mein Berater Wrax hat es gehört. Aber nur ich kann es lesen. Das Buch hat schon seit Generationen versucht, jemanden zu finden, den es für würdig erachtet, das Erbe des Transzendenten anzutreten. Es hat zu Unzähligen gesprochen, und alle waren unwürdig. Aber nun hat es mich gefunden.
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