Melissa wollte, als sie von dem anstehenden Friseurbesuch erfuhr, zunächst nicht mitkommen. Sie hatte von allen Mädchen an der Schule nämlich die längsten Haare, und das sollte unbedingt so bleiben. Erst als unsere Mutter ihr versprach, dass nicht mehr als zwei Zentimeter abgeschnitten würden, willigte sie schließlich ein. Von meiner eigenen Haarlänge konnte ich durchaus mehr entbehren. Mein Schopf war inzwischen so lang, dass mir der Rundschnitt fast bis zu meinem Kinn reichte, was zu der Zeit langsam unmodern wurde. Leider hatte ich nicht nur die hellbraunen Augen, sondern auch den rotblonden Haarton von meiner Mutter geerbt. Letzterer brachte mir an der Schule den Spitznamen „Karottenkopf“ ein, was mich dermaßen störte, dass ich bereits ernsthaft darüber nachgedacht hatte, meine Mutter zu bitten, mir eine Haarfärbung zu spendieren. Vermutlich wegen meiner unliebsamen Naturhaarfarbe machte ich mir wie Melissa nicht viel aus Friseurbesuchen, weshalb mein Haarschnitt einen so vernachlässigten Eindruck machte. Außerdem war mir die durch die ständig laufenden Trockenhauben und Föhne stickige Luft im Friseursalon zuwider, genauso wie der Geruch nach Haarspray und Färbemitteln, der mich dort umgab. Dazu kam noch das angeregte Geschnatter der Kundinnen mit den Friseurinnen über die unwichtigsten Dinge, denn leider musste ich mit meiner Mutter einen Damensalon besuchen. Mein Vater nahm mich nämlich nie mit, wenn er sich die Haare kürzen ließ. Mein Haarschnitt war immer recht schnell erledigt, genauso wie der von Melissa, bei der sowieso nur die äußersten Spitzen fallen durften. Dafür dauerte es bei unserer Mutter umso länger. Sie ließ sich gern ausgiebig zu neuen Trends beraten, um letztlich bei ihrer derzeitigen Frisur und ihrer Naturhaarfarbe zu bleiben, während meine Schwester und ich bereits ungeduldig darauf warteten, endlich aufbrechen zu können. Zwischendurch nach draußen zu gehen, war Melissa und mir strengstens verboten, weil uns unsere Mutter stets im Blick behalten wollte. Dass sie uns noch wie Babys behandelte, war wirklich anstrengend.
An dem besagten Nachmittag Anfang der Sommerferien marschierte ich lustlos neben meiner Mutter und Melissa zu dem neuen Friseursalon „Engelshaar“, der einen etwa fünfzehnminütigen Fußweg entfernt von unserem Haus lag. Zumindest blieb mir die lange Busfahrt in die Stadt erspart. Wenn wir den bisherigen Lieblingssalon meiner Mutter besuchten, verging mit Hin- und Rückfahrt immer der ganze Nachmittag. Vielleicht würde ich so nachher noch Gelegenheit haben, meinen Freunden ausnahmsweise, wenn meine Mutter es erlaubte, beim Angeln an einem See Gesellschaft zu leisten, falls sich bei dem miesen Wetter dort heute überhaupt jemand aufhielt. Zum Baden war es sowieso zu kalt. Der Himmel war schon seit Tagen grau, und hin und wieder gab es einen kräftigen Regenschauer. Meine Mutter hatte sicherheitshalber einen kleinen Schirm in ihre Handtasche gesteckt. Dass Melissa und ich womöglich nass werden könnten, hätte sie wohl in Kauf genommen, doch fände sie es sehr ärgerlich, wenn ihre aufwendig geföhnten Haare durch den Niederschlag in Mitleidenschaft gezogen würden.
Der neu eröffnete Friseursalon sah von außen aus wie jeder andere auch. Neben der gläsernen Eingangstür gab es ein Schaufenster, in dem Haarpflegeprodukte sowie Perücken ausgestellt wurden und außerdem mehrere große Fotos hingen, die Köpfe von Fotomodellen mit den neuesten Frisurentrends zeigten. Über der Tür stand in gelber Leuchtbuchstabenschreibschrift das Wort „Engelshaar“. Was für ein dämlicher Name. Doch hatten das nicht viele Friseursalons?
Melissa und ich betraten nach unserer Mutter den Salon, in dem es angenehm warm und keineswegs stickig war. Ein zitronenartiger Duft lag in der Luft, der so anders war als der widerwärtige Chemiegeruch der Haarpflegemittel, den ich von anderen Friseurbesuchen gewohnt war. Eine junge Frau mit blondem Haar, das streng in der Mitte gescheitelt zu einem Zopf zusammengebunden war, stand in einem sonnengelben Kittel hinter dem Empfangstresen und lächelte uns an, bevor sie uns freundlich begrüßte. „Hallo. Herzlich willkommen.“ Es klang so, als hätte sie uns schon ewig voller Sehnsucht erwartet.
„Hallo“, erwiderte meine Mutter sachlich. „Marianne Hart. Ich hatte angerufen. Das sind meine Kinder Constantin und Melissa.“ Sie wies auf meine Schwester und mich.
Ich fand es seltsam, dass sie der Friseurin unsere Namen mitteilte. Was ging es sie an, wie die Kinder hießen, denen sie die Haare schnitt? Die Friseurin schien das nicht zu verwundern. „Hallo ihr zwei“, wandte sie sich an Melissa und mich. „Ich heiße Emily. Möchtet ihr einen Lolli?“ Emily zeigte auf einen bauchigen Glasbehälter, der auf dem Empfangstresen stand und bunt eingewickelte Lutscher enthielt.
„Nein, danke“, lehnte meine Mutter ab, bevor Melissa und ich den Mund aufmachen konnten. „Zucker macht dick und schadet den Zähnen.“
Emily ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Na ja, vielleicht später?“, lenkte sie ein und zwinkerte Melissa und mir zu. Mir fiel auf, dass sie so unnatürlich runde Brüste wie meine Mutter hatte. Vielleicht hatte sie denselben Schönheitschirurgen besucht. „Möchtet ihr ablegen?“ Sie wies einladend auf den Garderobenständer, der in einer Ecke stand und an dem schon einige Jacken untergebracht waren.
Ich sah dem pikierten Gesichtsausdruck meiner Mutter an, dass es ihr nicht passte, ungefragt geduzt zu werden. Dennoch antwortete sie höflich: „Gern.“ Sie zog ihren eleganten beigen Trenchcoat aus und Melissa und ich unsere Kordjacken, dasselbe Modell, nur war Melissas rot und meine dunkelblau. Unsere Mutter betonte gern durch ähnliche Kleidungsstücke die Tatsache, dass Melissa und ich fast gleichaltrige Geschwister waren. Wären wir gleichgeschlechtlich gewesen, hätte sie uns vermutlich wie eineiige Zwillinge völlig gleich angezogen.
„Dann kommt mal mit“, forderte uns Emily auf, nachdem unsere Jacken an der Garderobe untergebracht waren, und führte uns in den Raum nebenan, in dem zwei dunkelhaarige Friseurinnen damit beschäftigt waren, sich um vier bereits anwesende männliche und weibliche Kunden zu kümmern. Ein gemischter Salon. So etwas hatte ich noch nie gesehen und gefiel mir auf Anhieb. Endlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, als Junge in einem Damensalon fehl am Platze zu sein. Vier weitere Friseurstühle auf der gegenüberliegenden Seite, die wie die übrigen vor einer Wand standen, deren obere Hälfte komplett verspiegelt war, waren noch frei. Emily lud uns mit einer Geste ein, am Fenster in der Sitzecke aus braunen Kunstledersesseln Platz zu nehmen, wo bereits ein junger Mann in einer Zeitschrift blätterte, die er vermutlich von dem niedrigen Tisch genommen hatte, auf dem alle möglichen Magazine wild durcheinanderlagen. „Macht es euch noch ein bisschen bequem“, schlug Emily uns vor. „Möchtet ihr etwas trinken? Wir haben einen vorzüglichen Espresso und für unsere kleinen Gäste Kakao.“
„Nein, danke“, lehnte meine Mutter in formellem Tonfall ab. Wer sie wie ich gut kannte, wusste, dass dieser Friseursalon aufgrund des vertrauten Umgangstons und der anwesenden Männer in ihren Augen noch vor dem ersten Einsatz der Schere bereits durchgefallen war.
„Okay“, gab Emily sich freundlich zufrieden. „Dann guckt euch doch ein bisschen den Lesestoff an. Es ist für jeden was dabei.“ Sie machte Melissa und mich auf ein Wandregal, das neben den Sesseln angebracht war, aufmerksam. „Hier gibt‛s auch etwas für unsere kleinen Gäste.“ Zu dem jungen Mann, vor dem auf der einzig noch freien Tischfläche eine leere Espressotasse samt Untertasse stand, sagte sie: „Deine Mutter ist sicher gleich fertig. Darf ich deine Tasse mitnehmen?“
Der junge Mann nickte, und Emily verschwand mit dem Geschirr zurück in den Empfangsraum.
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