»Hast du daran genug, Erna?«
»Jawohl, eine Flasche für die kranke alte Anna, die andere für den armen Fischer, und die dritte bekommt die leidende Schwester des Briefträgers.«
Frau Wagner war schon wieder damit beschäftigt, ein neues Paket zusammenzuschnüren, lächelnd schaute ihr der Gatte dabei zu.
»Wirst du denn mit all deinen vielen Weihnachtsvorbereitungen fertig werden, kleine Frau?«
»Hoffentlich, – mir schwirrt allerdings der Kopf, wenn ich daran denke, was noch alles zu erledigen ist. Heute nachmittag kommt Joachim mit seinem Freunde Wendelin. – Hast du denn für Herrn Wendelin die Zigaretten besorgt?«
»Sie werden im Laufe des Tages hergebracht.«
»Morgen mittag kommt Bärbel. Ich muß für das Kind heute nachmittag noch rasch die Briefbogen mit Monogramm abholen. Sie sind erst gegen sechs Uhr fertig. Ich bin aber trotz aller Arbeit so unendlich glücklich, endlich wieder alle meine vier Kinder um mich zu haben.«
»Es sind fünf. Herr Wendelin ist doch auch dabei.«
»Er ist immer so dankbar. Er, der kein Elternhaus mehr hat, soll dieses Jahr bei uns ein recht schönes Weihnachtsfest verleben. Ich kann ihm gar nicht genug danken wegen des prachtvollen Einflusses, den er auf unseren Joachim ausübt.«
»Hast recht, liebe Erna. Joachim würde im nächsten Jahre niemals ins Examen gestiegen sein, wenn ihn Herr Wendelin nicht in den Fingern gehabt hätte.«
Das Gespräch wurde durch lautes Geschrei unterbrochen, das aus zwei Knabenkehlen stammte. Die beiden Zwillinge, Martin und Kuno, waren sich wieder einmal in die Haare geraten.
»Du kriegst eins mit dem Schlagring!«
»Ach, – du Verbrecher!«
»Nieder mit dir!«
Noch einige laute Schreie, dann entschwand der Lärm.
Apothekenbesitzer Wagner hatte sich lachend in einen Stuhl fallen lassen.
»Unser Kuno wird mit seinen Weihnachtsgaben nicht zufrieden sein, weil wir ihm alles, was auf seinem Wunschzettel stand, gestrichen haben.«
Sorgenvoll schaute Frau Wagner auf.
»Woher hat der Junge nur diese tollen Gedanken?«
Der Apothekenbesitzer zog aus der Tasche mehrere Zettel hervor, und wieder lachte er.
»Wunschzettel eures treuen Sohnes Kuno, genannt Sherlock Holmes«, las er. »Ein Schlagring, einen dicken Totschläger, einen sechsläufigen Revolver, genannt Browning, ein dolchartiges Messer, das nicht zusammenklappt, wenn man damit sticht, eine Blendlaterne, Schuhe mit glatten Gummisohlen, sogenannte Schleichschuhe, einen Schattenanzug aus schwarzem Trikot, viele Süßigkeiten.«
»Es ist doch schrecklich, derartige Wünsche niederzuschreiben«, sagte Frau Wagner sorgenvoll.
»Das ist alles gar nicht so schlimm. Der Junge wird von diesen Mordgedanken bald abkommen, wenn er, ebenso wie Martin, seine Indianerausrüstung bekommt.«
»Aber er hat uns schon gar manchen tollen Streich geliefert.«
»Das haben Joachim und Bärbel auch getan. Mach’ dir nur des Jungen wegen keine Sorgen, Erna. Zum Glück schlummert in allen unseren Kindern so viel Gutes, daß die überspannten Ideen, die ein jeder von ihnen hat, keine tiefen Wurzeln schlagen werden. Denken wir doch an unsere Jugend zurück. Lieber Himmel, was war ich für ein Bursche, und schließlich hast du doch einen ganz brauchbaren Mann bekommen, liebes Weib.«
Während Herr und Frau Wagner nun die letzten Vorbereitungen zum Weihnachtsfeste trafen, hatten die beiden Zwillinge bereits wieder Frieden geschlossen und standen jetzt in der Küche, um den Schokoladenbrei zu kochen. Sie hatten es durchgesetzt, daß sie aus Marzipanmasse Ringe, Würste und Brezeln formen durften, hatten den Marzipanteig so lange auf Tischen und Kommoden ausgerollt, bis die weiße Masse dunkelgrau geworden war. Als die Mutter erklärt hatte, daß man sich vor solch schmutzigen Marzipansachen ekle, war Martin auf den Gedanken gekommen, das graue Marzipan mit schwarzer Schokoladenmasse zu überziehen. So wurde jetzt in der Küche diese Masse gekocht, um die Marzipansachen wieder ansehnlich zu machen.
Die Köchin war etwas ungehalten darüber, daß die Schokoladenmasse nun schon zum dritten Male umgeschüttet wurde, weil sie bereits zweimal kräftig angebrannt war.
»Mir braucht ihr von eurem Naschwerk nichts anzubieten«, sagte sie, »pfui Teufel, das sieht ja ganz fürchterlich aus!«
Martin war eben dabei, eine der grauen Marzipanwürste auf dem Küchentisch noch etwas länger auszurollen. Da brach die Wurst entzwei, und unwillkürlich versuchte Martin die beiden Stücke mit Speichel zusammenzukleben.
»Pfui, du Schmutzfink!«
Gelassen steckte Martin die beiden Teile in den Mund.
»Mir schmeckt es«, sagte er kurz.
»Der Bärbel wird es auch schmecken«, versicherte Kuno.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte die Köchin. »Bärbel ist eine feine junge Dame geworden.«
Die beiden Knaben brachen in wieherndes Gelächter aus und riefen:
»Bärbel eine Dame! Du bist ja ganz meschugge, Emma.«
»Wollt ihr euch nicht erst einmal die Hände waschen, Jungens, ehe ihr weiterkocht? – Pfui, Martin, an dir klebt ja die dicke Tinte.«
Martin wischte sich hastig die Finger an der Jacke ab; dann begann das Eintauchen der Marzipansachen in den heißen Schokoladenbrei. Das war keine leichte Arbeit, zumal sich Martin dabei einige Male die Finger verbrannte und die süßen Stücke hastig auf die Erde fallen ließ. Dann aber legten die Knaben all die tropfenden Würste auf den soeben sauber gescheuerten Küchentisch. Emma, die mit einer anderen Arbeit beschäftigt war, sah das Unheil erst, als der Tisch bereits bis zur Hälfte belegt war.
»Nun aber hinaus, ihr schrecklichen Bengel, und euren Kram nehmt mit, sonst werfe ich alles auf die Erde!«
Da holte Kuno eine Zeitung, und da hinein wurde das tropfende Marzipan gewickelt.
»Wir machen es bei uns wieder auseinander«, entschied Kuno. Darauf zogen sich die beiden Knaben in ihr gemeinsames Zimmer zurück.
Gegen Abend kamen die beiden Studenten an. Apothekenbesitzer Wagner holte seinen Sohn und dessen Freund persönlich von der Bahn ab. Er hatte seine helle Freude an den gut aussehenden jungen Männern, die beide in dem Gedanken, das Fest hier verleben zu können, recht beglückt waren.
Besonders aus den Augen Harald Wendelins strahlte das Glück. Er, der schon seit Jahren kein Elternhaus hatte, der ein richtiges Weihnachtsfest kaum kannte, war Wagners aus tiefstem Herzen dafür dankbar, daß er die Ferienzeit wieder hier in Dillstadt verleben durfte. Wie froh und geborgen fühlte er sich im Kreise dieser fröhlichen Familie, wie viele nette Stunden hatte er schon damals hier verbracht.
Man sprach von dem bevorstehenden Examen. Joachim wie auch Harald hatten sich dem Maschinenbaufach zugewandt und wollten im Frühling ihren Diplomingenieur machen.
»Ist Fräulein Bärbel auch schon eingetroffen?«
»Nein, unser Bärbel kommt erst morgen. Aber sie ist noch ein Kind, Herr Wendelin, bitte, schenken Sie sich die förmliche Anrede und nennen Sie unser Goldköpfchen einfach beim Vornamen.«
Harald Wendelin wurde von den Zwillingen gar bald mit Beschlag belegt. Kuno besonders wollte wissen, ob er schon einmal überfallen worden sei, ob er sich gegen Einbrecher verteidigen könne, und ob es wohl richtig sei, wenn man den ersten Angreifer k.o. boxe und den zweiten niederschösse.
»Vielleicht könnte man auch in jede Hand eine Pistole nehmen und alle der Reihe nach niederknallen. – Wie würden Sie es machen?«
»Ich würde mich gar nicht zu solchem Raubgesindel begeben.«
»Das kann aber sehr schnell einmal kommen. Mein Freund hat mir erzählt, daß auch in unserer Gegend eine Verbrecherbande umgehen soll. Eines Tages hat man es auf die Apotheke abgesehen, weil man weiß, daß in der Apotheke Werte sind. – Wenn ich erst meinen Schlagring habe, brauchen alle nichts mehr zu fürchten.«
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