In dem großen Hofe nahmen sie Aufstellung, und bald erklang der jammervolle Gesang, in den auch Joachim voller Begeisterung einstimmte.
»Wenn wir wären Zwillinge, so sind wir unser zwei, Wenn wir wären Drillinge, dann sind wir unser drei!«
Es dauerte gar nicht lange, da öffneten sich die Fenster, auf den Hof hinaus traten einige Frauen, die mit neugierigem Staunen die drei verwahrlosten Gestalten musterten.
Joachim war der dreisteste. Mit ausgestreckter Hand ging er auf die Zuschauer zu.
»Ich bin lahm, und der dort, mein Bruder, ist blind. Die Schwester ist ein Krüppel. – Geben Sie uns zehn Pfennige.«
»Du bist doch der Wagner?«
»Nee, der bin ich nicht. Der Wagner ist in der Apotheke.«
»Macht, daß ihr heimkommt, sonst hol’ ich den Stock!«
»Laß sie doch«, ertönte eine Stimme.
Unentwegt sang Bärbel weiter. Sie machte dazu ein so treuherziges Gesicht, daß sich schließlich auch die Gastwirtin wieder beruhigte.
»Wollt ihr ’ne Stulle haben?«
»Nee, Geld«, schrie Emil.
Einer der Umstehenden gab fünf Pfennige.
»Das lohnt nich«, sagte Emil verächtlich, »wir brauchen mehr!«
»Ich denke, du bist blind?«
»Bin ich«, versetzte Emil schnoddrig, »aber mein Hühnerauge hat gesehen, daß es nur fünf Pfennige sind.«
»Geben Sie uns nur Geld, wir brauchen Sirup«, flötete Bärbel.
»Was sagen denn die Eltern dazu, wenn du umherläufst und singst?«
»Das geht Sie nischt an«, warf Emil Peiske dazwischen. »Jetzt singen wir weiter.«
»Dir werde ich was auf deinen großen Mund geben, du Bengel!« Die resolute Gastwirtsfrau ging auf Emil zu, worauf dieser Reißaus nahm.
»Macht, daß ihr wieder heimkommt«, zürnte sie, »die Eltern müssen sich ja schämen, wenn ihr so umherlauft.«
Da nahm Joachim die Schwester an die Hand, zerrte sie vom Hofe herunter, sie vereinten sich draußen wieder mit dem wartenden Emil und gingen dann in das gegenüberliegende Grundstück hinein, um dort ihr Glück zu versuchen.
Aber auch hier erregten die Kinder nur Staunen. Ein Herr kam an sie heran. Da stieß Emil einen kurzen, schrillen Laut aus und lief wie gehetzt davon.
Das hatte er freilich nicht erwartet, daß sein Lehrer zufällig in diesem Hause war. Nun würde es morgen eine schöne Tracht Prügel in der Schule setzen.
Joachim, der sich ohne den Anstifter unbehaglich fühlte und die rasche Flucht des Freundes noch nicht erklären konnte, unterbrach den Gesang gleichfalls, lief Emil nach; und so blieb Bärbel allein auf dem Hofe zurück.
Verängstigt schaute sie von einem zum anderen.
»Wer schickt dich denn hierher, Bärbel?«
»Wir wollten singen und viel Geld bekommen.«
»Weiß das deine Mutti?«
»Nein.«
»Dann geh nur rasch heim und laß dich umkleiden, denn es ist gar nicht nett, wenn ein kleines Mädchen so umherläuft.«
»Die Großmama hat Bärbel so angezogen.«
»Deine Großmama? Ist das wahr?«
»Ja.«
»Und sie weiß, daß du in fremde Häuser gehst und singst?«
Bärbel schüttelte den Kopf.
Schließlich nahm sie der Herr an die Hand, um sie heimzuführen.
Selbstverständlich erregte der merkwürdige Anzug der Kleinen überall die größte Aufmerksamkeit, und unter Begleitung einer größeren Kindermenge erreichten die beiden die Apotheke.
Herr Wagner, der soeben einem Kunden etwas verabreichte, wurde durch den Lärm aufmerksam und erkannte in dem maskierten Kinde seine Tochter. Wie kam der Lehrer Weber dazu, sein Kind hierher zu bringen, – was war geschehen?
Er ließ Senftleben allein in der Apotheke zurück und ging den Ankommenden entgegen.
Bärbel fühlte sich ein wenig unbehaglich, denn durch die Reden des Begleiters war der Kleinen klar geworden, daß es nicht richtig gehandelt hatte.
Mit Dankesworten wurde der Lehrer entlassen; dann nahm der Apothekenbesitzer seine Tochter an der Hand und führte sie hinauf zur Großmama.
Frau Lindberg, die nichts Böses ahnte, lachte und konnte sich die strenge Miene ihres Schwiegersohnes nicht erklären.
»Weißt du, wo man Bärbel gefunden hat? Sie ist in der Karlstraße gewesen und hat auf dem Hofe gesungen.«
»Bärbel!«
Stotternd gab das Kind auf Befragen die nötigen Erklärungen. Dann langte der Vater nach dem Rohrstock, und nun setzte es eine gehörige Tracht Prügel.
»Ich wollte nur Geld verdienen«, stieß Bärbel schluchzend hervor.
»Darum hast du dich nicht zu kümmern, dein Vater verdient das Geld, merke dir das!«
Sie schluchzte bitterlich. »Nun tut die ganze Hinterbrust weh – und es war doch so schön!«
»Wo ist Joachim?«
»Er ist fortgelaufen.«
»Du bleibst heute den ganzen Abend in der Stube; und wenn ich eine einzige Klage höre, gibt es nochmals Prügel.« »Ach, Vati, – das wird die Hinterbrust nicht vertragen.«
»Du bist still und hast nichts zu antworten.«
Da setzte sich Goldköpfchen folgsam auf ihr kleines Stühlchen und überlegte, wie merkwürdig es doch in der Welt zuging. Wenn der Vati Geld verdiente, bekam er keine Prügel; und wenn sie sich abmühte, setzte es Schläge. Ob der Joachim auch Prügel bekam? Aber so sehr Bärbel auch von dieser Frage bewegt wurde, sie wagte nicht mehr, den Mund zu öffnen.
Zehn Minuten später hörte sie allerdings, daß sich auch über Joachim ein Strafgericht ergossen hatte, denn des Bruders Stimme tönte in schrillsten Klagetönen durch das ganze Haus.
»Hau’ doch den Emil, der war der Anstifter!«
Schließlich saß auch er im Zimmer der Großmutter und rieb sich von Zeit zu Zeit den schmerzenden Rücken.
Bärbel tröstete ihn herzlich. »Unsere armen Hinterbrüste! Aber weine nicht so sehr, Joachim, es wird bald wieder besser.«
»Wenn der Emil keine Prügel gekriegt hat, hau’ ich ihm morgen die Jacke voll!«
Vom Teufel, der immer anders wollte
»Mutti, Mutti!« Durch Bärbels Stimme zitterte heiße Erregung, als sie durch den Garten stürmte, um der Mutter, die seit einigen Tagen das Bett verlassen hatte, die schreckliche Botschaft zu bringen. »Mutti, Mutti!«
Keuchend gelangte das Kind bei Frau Wagner an, die in einem Liegestuhl lehnte, den Kinderwagen mit den Zwillingen neben sich.
»Was ist denn los, Goldköpfchen, du bist ja so erhitzt?«
»Mutti, der Mann hat den ganzen Bauch kaputt, und aus dem Bauch kommt alles raus!«
»Was ist los? Welcher Mann?«
»Der Mann, der den Stall macht und die vielen Bretter hat.«
»Der Zimmermann Krause, – was ist mit ihm?«
»O, Mutti, alles kommt aus dem Bauch raus, – alles, was er im Bauche hat.«
»Um Gottes willen, Kind, ist ein Unglück geschehen?«
»Komm, Mutti!«
Frau Wagner erhob sich in grenzenloser Aufregung. Konnte es möglich sein, daß der Zimmermann verunglückt war? Sie warf noch einen Blick auf die schlafenden Zwillinge; dann folgte sie der davonstürmenden Bärbel.
Im Hofe saß Krause und bohrte in ein Brett Löcher.
»Sieh, Mutti, sieh doch!«
»Was hast du denn, Bärbel?«
»O – auch aus dem Arm kommt alles raus und aus dem Bauch!«
Nun blickte auch der Zimmermann auf; aber auch er konnte sich die Aufregung des Kindes nicht erklären.
»Was kommt denn aus dem Bauch heraus, Goldköpfchen?«
»Sieh doch, sieh«, sagte das Kind ungeduldig und wies auf die vielen Sägespäne, die in der Schürze des Zimmermanns lagen. »Genau wie bei Olga, als ihr der Joachim den Bauch aufgeschnitten hatte.«
Frau Wagner mußte sich niedersetzen, denn der Schreck war ihr in die Glieder gefahren. Sie hatte an ein Unglück geglaubt: und nun hatten die Sägespäne, die auf der Arbeitskleidung des Mannes lagen, das Mißverständnis herbeigeführt.
Sie begriff, daß Bärbel, die damals so bitterlich geweint hatte, als man ihre Puppe zerschnitt, nichts anderes glaubte, als daß jeder Mensch mit diesem Material ausgefüllt sei und daß Krause unbedingt ein Loch im Bauche haben mußte.
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