Qori justiert den Monitor neu. Die Karte verschwindet und Einzelheiten einer Welt, die seit über zweitausend Jahren vergangen ist, werden wie auf einem Film schlechter Qualität sichtbar.
Sein Weg führt sie hinein in einen kleinen, staubigen Ort, in eine ebenso kleine, von einer großen Familie bewohnten Hütte mit nur einem Zimmer, zu einem jungen Mädchen, das einer älteren Frau beim Brotbacken hilft. Alles in diesem Ort wirkt karg und ärmlich.
„Da ist sie.“ Zärtlichkeit liegt in Qoris Stimme.
„Aber das Mädchen ist vielleicht grade mal dreizehn Jahre alt!“, wirft Pria erschrocken ein.
„Das war damals das Alter, in dem die jungen Leute heirateten, Pria. Die Zeiten haben sich geändert.“ Miguel zwinkert ihr zu. „Wer heiratet heute noch?“
„Und wir ändern sie jetzt noch einmal“, erklingt Professor Zulgors Stimme im Hintergrund.
„So sei es!“
Er verlässt mit den Anderen den Raum.
Qori hält Pria, die ihm folgen will, zurück. „Sie hat einen Verlobten. Du wirst ihn einweihen müssen, denn sie ist noch unberührt.“
Pria schüttelt verwirrt den Kopf. „Eine Jungfrau? Weißt du, was du ihr damit antust?“
„Und was soll ich ihm erzählen? Du verlangst, dass ich mit ihm Kontakt aufnehme? Und wieso denkst du überhaupt, dass ich gehen werde?“ Sie kann seinem intensiven Blick kaum standhalten.
„Weil du es willst, Pria. Es ist dein Kind. Du wirst es beschützen wollen wie jede Mutter.“ Er streicht ihr lächelnd übers Haar. „Aber dafür wirst du auf dein wunderschönes, goldenes Haar verzichten müssen. Blondinen waren dort zu der Zeit sehr selten.“
Pria schnauft empört. „Kommt ja gar nicht in Frage!“
Der halbe Inhalt ihres Kleiderschrankes liegt über dem Bett verstreut. Pria sitzt an ihrem Schreibtisch, den Kopf tief vergraben über aufgeschlagene uralte Bücher, die Hände ebenso in den blonden Haaren.
Qori angelt schmunzelnd einen Büstenhalter aus dem Wäscheberg. „So etwas gab es meines Wissens nach zu der Zeit nicht.“
Aus den Augenwinkeln schult sie kurz zu ihm. „Ich habe nicht vor, mich dort auszuziehen.“ Sein Lachen lässt sie kurz aufblicken. „Hör zu, Qori, ich muss noch lernen. Die Hypnoschulung kann mir zwar die Grundlagen der Sprache vermitteln, aber das reicht nicht, um authentisch zu wirken. In drei Tagen breche ich auf. Bis dahin ...“
„Vergeht noch viel Zeit“, erwidert Qori sanft. „Hast du dir schon eine Geschichte für ihren Verlobten ausgedacht?“
„Bin dabei. Hier.“ Achtlos hält sie ihm einen Bogen Papier hin.
Qori nimmt ihn, überfliegt den Text. „Nicht schlecht. Aber ob die Menschen dieser Zeit ihn verstehen?“
„Miguel meint, sie werden. Die alten Schriften werden bis zum Tag unseres Eingreifens Bestand haben. Aber ...“ Pria richtet sich seufzend auf und blickt Qori nachdenklich an. „... ob er sich alleine durch meine Worte daran hindern lässt, sie zu verstoßen? Wie soll sie es ohne Mann mit einem nichtehelichen Kind schaffen? In dieser Zeit? Sie wird eine Ausgestoßene sein. Niemand wird ihr die Geschichte glauben, die wir ihr erzählen werden.“
Qori fährt mit den Fingern durch ihr langes Haar. „Locken würden dir gut stehen.“ Pria mustert ihn verständnislos. „Locken?“
Qori nimmt eines der Bücher von ihrem Tisch, findet nach kurzem Suchen die gewünschte Seite und zeigt ihr die Stelle. „Wenn du dir dies hier zu Nutze machst, mein Engel, dann werden sie dir alles glauben, was du ihnen erzählst.“
Pria nimmt wirft einen Blick in das Buch. „Das könnte sogar funktionieren! Miguel hat sicher noch ein paar alte Bilder für mich – als Inspiration.“ Sie springt auf und wühlt in den Kleidungsstücken auf dem Bett herum. „Ich hab bestimmt auch noch etwas Passendes zum Anziehen. Und zum Frisör muss ich sowieso mal wieder ...“
Qori lacht über ihren Eifer. „Hoffentlich hast du auch die passende Sprache gelernt, sonst nützt dir dein hübsches Köpfchen diesmal überhaupt nichts!“
„Natürlich hab ich - oh, du ...“ Sie wirft lachend mit einem Pullover nach ihm.
Qori fängt ihn auf, wirft ihn zurück aufs Bett und zieht Pria an sich. „So gefällst du mir schon viel besser.“ Er schickt einen schrägen Blick aufs Bett. „Aber das da gefällt mir überhaupt nicht. Wo soll ich denn heute Nacht schlafen?“
„Wie wäre es denn zur Abwechslung mal in deinem eigenen Bett?“ Pria zwinkert ihm zu.
Hand in Hand schlendern sie durch den Stützpunkt. Es ist spät und nur noch wenige Menschen sind in den taghellen Gängen unterwegs. Zeit ist hier ebenso künstlich wie Sonnenlicht, doch ist gerade die Zeit ihr wichtigstes Orientierungsmittel. Und sie läuft ihnen davon. In jeder Sekunde. Immer schneller.
„Wir werden die einzigen Menschen sein, die sich gefahrlos nach draußen bewegen können, wenn das Experiment abgeschlossen ist“, meint Pria leise, den Blick auf die zahlreichen
Türen gerichtet, hinter denen andere Quartiere liegen. „Viele werden diese Welt nie wieder verlassen dürfen.“
„Sie dürfen“, erwidert Qori ebenso leise. „Sie selbst werden darüber entscheiden, welches Leben sie führen wollen. Ob sie das Risiko eingehen und auf das Göttliche vertrauen, oder ob sie hier in der Dunkelheit die trügerische Sicherheit eines längst vergangenen Lebens führen wollen.“
„So einfach ist es nicht, Qori.“ Pria schmiegt sich enger an ihn. „Wir hängen doch alle an unserem Leben, sei es auch noch so kümmerlich. Niemand weiß wirklich, was nach dem Tod kommt.“
„So wie niemand weiß, was nach dem Experiment kommen wird. Wir hoffen auf ihn, aber er kann sich auch ganz anders als geplant entwickeln. Auch wenn er mein Klon ist, so hat er doch seinen eigenen, vom Göttlichen gegebenen Willen, und der kann sich von meinem ganz erheblich unterscheiden.“ Qori schickt ihr ein schiefes Grinsen. „Das hoffe ich jedenfalls.“
Lachend schiebt Pria ihn von sich, nur um ihn gleich wieder zu sich zu ziehen. „Ich hoffe nur, er hat nicht deinen Galgenhumor geerbt!“
„Nein“, schmunzelt Qori, „der ist hart erarbeitet.“
Pria bleibt stehen und zieht ihn zu sich. Ihre Lippen suchen die seinen auf dem menschenleeren Gang.
Doch die Stille wird unterbrochen von einem lauten Knall aus einer der Türen im abzweigenden Nebengang.
Erschrocken fahren die Zwei auseinander.
„Was war das?“ Pria blickt sich aufgeregt um. „Dort! Im Labor! Oh nein!“
„Komm!“ Qori greift nach ihrer Hand und rennt zum Labor.
Türen öffnen sich, erschreckte, verschlafene Mitarbeiter schauen auf den Gang. Sie begreifen und eilen ebenfalls zum Labor, verstopfen den Gang.
Die Tür ist halb aus den Angeln gerissen. Scherben bedecken den Boden. Das Metall der Tische und Schränke zerfetzt wie Aluminiumfolie. Ätzende Gase steigen ihnen in die Nasen, zwingen sie zum Husten.
Die Menge verharrt vor der Tür.
Qori drängt sich durch die Gaffer. Zwischen den Trümmern liegt Bernard, Prias Assistent. Die Augen weit aufgerissen, kaum noch Leben in ihnen. Der Körper blutend aus unzähligen Wunden, gerissen von den umherfliegenden Splittern.
Pria eilt an Qoris Seite, der bereits neben dem Verletzten am Boden kniet. Ihr reicht ein Blick, um zu wissen, das spärliche Antworten alles sind, was das Leben in Bernard noch zu geben bereit ist.
„Bernard! Was ist passiert? Was ist denn nur passiert?“ Doch nur ein leises Stöhnen antwortet ihr.
„Halte seinen Kopf!“, verlangt Qori, während er ihm Kittel und Hemd aufreißt.
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