"Bleib hier, Qori, bitte", flüstert sie kaum hörbar in die Stille der künstlichen Nacht. "Wenn du gehst, während das Experiment läuft ..."
"Hab keine Angst", flüstert er ebenso leise zurück. Oder hört sie die Worte nur in ihrem Kopf?
Unruhig rutscht Pria zur Seite, mustert ihn in der spärlichen Beleuchtung. Qori schläft tief und fest.
"Du machst mir Angst", flüstert sie. "Es ist dein Ebenbild, das wir durch die Zeit zurückschicken werden, aber du würdest auch selbst gehen, wenn wir es dir erlauben würden."
Ein Lächeln zieht über sein Gesicht und er wendet sich auf der Suche nach ihr zur Seite, legt den Arm über sie. Wie gebannt starrt sie auf seine Lippen, aber sein Mund bewegt sich nicht, als sie seine Worte hört.
Ich bin zu alt, zu verbrannt. Ich würde Jahre brauchen, um die Welt von damals zu verstehen, um ein Teil von ihr zu werden. Nein, er muss und wird in der Vergangenheit aufwachsen, damit sie ein Teil von ihm wird. Er muss die Menschen seiner Zeit verstehen können. Ich kann das nicht. Ich verstehe ja nicht einmal die Menschen meiner Zeit.
"Und ich verstehe dich so oft nicht", flüstert Pria. "Ich ahne nur die Fähigkeiten, die in dir stecken. Du versteckst dein wahres Potenzial und ich frage mich, warum du das tust. Du könntest so viel Gutes in dieser Welt bewirken."
Ich kann nur eine Welt verändern. Die Gegenwart oder die Vergangenheit. Würde ich in der Gegenwart wirken, verschöbe sich die Vergangenheit und wir würden weder den richtigen Zeitpunkt, noch den passenden Ort finden.
"Aber das ist Unsinn! Physikalisch gesehen völlig unmöglich! Du kannst aus der Gegenwart heraus nicht die Vergangenheit verändern!"
Sein Lächeln wird intensiver. Und was tun wir dann hier?
"Aber nur mit Hilfe der Technik und ... - Qori, willst du damit sagen, du könntest ohne diese Hilfsmittel die Zeit manipulieren?" Ohne es zu bemerken, hat sie die Worte laut gesprochen.
Qori räkelt sich und schlägt die Augen auf. „Was soll ich manipulieren?“
Pria setzt sich auf. „Du hast gerade gesagt, du könntest ohne technische Hilfsmittel die Zeit manipulieren!“
„Hab ich das gesagt? Ich dachte, ich hätte geschlafen.“
Sein freches Grinsen versetzt sie in Rage. „Ach, verdammt! Nicht gesagt – telepathisch übermittelt dann eben! Ist doch egal! Du machst es doch eh nur, um mich zu ärgern!“
Qori lacht und zieht sie zu sich. „Sicher nicht. Nicht jeder kann mich hören. So ... die Zeit manipulieren, also ... komm mal her, ich zeig dir was.“ Er weist auf die Uhr an der Wand. Sie zeigt 2 Uhr 20. „Nimm meine Hände und konzentriere dich auf mich. So wie du es beim
Einschlafen immer machst.“
„Du merkst das?“, fragt Pria erschrocken. „Ach, wieso frage ich überhaupt! Natürlich merkst du das!“
Pria gibt nach und lehnt sich an ihn, nimmt seine Hände in ihre und lässt seine Energien auf sich wirken, bis sie seine Ruhe in sich spürt.
„Jetzt achte auf die Uhr.“ Qori starrt auf die Uhr.
Pria folgt seinem Blick. Langsam wandert der Zeiger über eine Stunde zurück, bis es 0 Uhr 56 ist.
Qori atmet tief durch und entspannt sich.
„Na und?“ Pria schüttelt die Gänsehaut ab. „Fühlte sich wie elektrische Spannung an. Aber du hast nur die Zeiger der Uhr zurückgedreht. Das können unsere Telekineten auch – sogar noch viel besser.“
„Schau auf deine Armbanduhr“, verlangt Qori schmunzelnd.
Sie wirft ihm einen skeptischen Blick zu. Auch ihre Armbanduhr zeigt die neue Zeit. Sie geht zum Schreibtisch, schaut auf die Uhr des Radios – 0 Uhr 58.
„Mach es an, wenn du mir nicht glaubst“, meint Qori gelassen, „und ich weiß, du glaubst mir nicht.“
Pria stellt das Radio an. Ein Lied verklingt, dann kommen die üblichen, manipulierten Nachrichten. Ärger breitet sich in Pria aus. „Hör dir das an, Qori! Ich kann es nicht mehr hören! Börsenberichte, Wirtschaftskonferenzen, Innovationsprämien - Geld, Geld, Geld! Und dazwischen Werbung für all die Produkte, für die wir das Geld wieder ausgeben sollen! Um ja noch mehr Geld verdienen zu wollen, weil wir das neue Produkt unbedingt haben müssen!
Und schon stecken wir mitten im Kreislauf der modernen Sklaverei!“
Der Nachrichtensprecher verabschiedet sich wie üblich mit der aktuellen Zeit – 1 Uhr und 5 Minuten.
Pria starrt Qori ungläubig an. „Du hast wirklich ...“
Sie tastet sich zögernd zu ihm ins Bett zurück. „Aber wie ... das hyperenergetische Feld
lässt diese Art der Energien nach außen doch gar nicht durch!“ Erschrocken sucht sie seinen Blick. „Was wenn doch ...“
„Begreifst du jetzt, Pria?“, erklärt Qori sanft und zieht sie wieder an sich. „Ich habe gerade alles ausgelöscht, was in der letzten Stunde geschehen ist. Auch deinen Alptraum.“
„Meinen was? Ich kann mich nicht erinnern ...“
„So wie an unser Gespräch gerade eben. Die neue Gegenwart braucht ein wenig Zeit, um sich anzupassen. Je größer die Zeitverschiebung ist, desto länger.“
Pria schmiegt sich an ihn. „Keine Ahnung, wovon du redest. Warum hast du mich überhaupt geweckt? Lass mich schlafen. Morgen ist ein anstrengender Tag.“
Lange noch starrt Qori ins Halbdunkel des Raumes, während Pria fest an ihn geschmiegt schläft. Tief in ihm ist eine Unruhe spürbar, die er nicht versteht. Ein Gefühl der Warnung.
Eine Warnung – wovor? Meine innere Stimme trügt mich längst nicht mehr. Sie ist mein Freund, beschützt mich. Sie flüstert mir zu, doch was ich höre, beunruhigt mich. Ja, ich weiß, mein Freund, das hyperenergetische Feld kann uns nicht schützen. Nur das Vergessen einer neuen Gegenwart. Doch wer von uns wird dabei von ihr vergessen werden?
Für viele Mitarbeiter des Stützpunktes ist dieser Ort ihr Zuhause geworden. Beziehungen sind entstanden. Paare haben sich gefunden und wieder getrennt. Nur Kinder dürfen sie nicht bekommen. Das Risiko ist zu groß.
Sie wissen, wenn das Experiment erst einmal läuft, können sie das geschützte Gelände nicht mehr gefahrlos verlassen. Niemand weiß, ob es ihn in der neuen Zukunft noch geben wird.
Diese Nachforschungen für jeden Einzelnen werden Jahre brauchen. So haben sie sich von Beginn an darauf eingerichtet, ihr restliches Leben hier zu verbringen.
Der Komplex ist groß und bietet ihnen jeden Komfort, den sie sich wünschen. Unterirdische Gärten, Geschäfte, Lokale, Freizeiteinrichtungen und Sportgelände. Nur das Sonnenlicht vermissen sie gelegentlich. Ausflüge an die Oberfläche sind streng rationiert, um nicht aufzufallen.
Sie haben sich ihre eigene Welt geschaffen. Mit eigenen Regeln und fast vergessenen Gesetzen, an deren Gültigkeit sie heute noch glauben und auch den Menschen dort draußen vermitteln wollen. Dieser Mann brachte sie zurück vom jenem Berg, vor langer Zeit. Sie sind überzeugt davon, mit ihrer Hilfe jedes Elend der Welt verhindern zu können.
Qori wandert ziellos durch den Stützpunkt. Seine Welt ist dies nicht. Er braucht den Sonnenschein und den frischen Wind. Die Enge hier bedrückt ihn. Viel zu viele Gedanken und Gefühle auf engstem Raum. Das ständige Abschotten kostet Kraft. Ewiges Zuhören noch mehr.
Er sucht die Weite, die Ruhe, die Abgeschiedenheit. Die Einsamkeit. Steigt auf Berge oder durchquert Wüsten. Fährt hinaus aufs Meer oder stapft über das dicke Eis der Pole. Immer alleine. Immer auf der Suche nach Wissen und Wahrheit.
Jeder kennt ihn. Jeder grüßt ihn flüchtig und hält Abstand. Sie wissen um seine Macht und seine Bedürfnisse. Sie wissen, er ist der Schlüssel zu ihrer neuen Zukunft. Sie haben Scheu vor ihm, vertrauen ihm, doch überwiegt in letzter Zeit so mancher Zweifel.
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