Qori sucht ihren Blick, liest vereinzelte Gedanken. Ihr Glaube an sich selbst, an ihre göttliche Kraft, ist immer noch nicht stark genug. Sie sind nur schwache Menschen. Schafe, die nur die Herde und das Leittier gewechselt haben. Sie vertrauen auf ihren Anführer, dass dieser schon weiß, was er tut. Doch sie sind immer noch so blind wie ihre Artgenossen ...
Er geht weiter, zurück zum Labor. Ein steriler Raum, der dennoch Lebendigkeit und Kraft ausstrahlt. Er spürt ihre starken Energien, die jeden Winkel ausfüllen, sofort, noch bevor er sie sieht.
Pria sitzt über das Mikroskop gebeugt. Sie bemerkt ihn und winkt ihn eifrig zu sich.
„Komm her! Das musst du dir anschauen!“
Gelassen, die Hände tief in den Hosentaschen, schlendert er durch den Raum. Es scheut ihn, in ihren Gedanken zu lesen, was sie so sehr bewegt. Er ahnt es und das ist ihm schon zu viel.
„Was ist denn so wichtig?“
„Nun beeil dich doch mal!“ Lachend schüttelt Pria den Kopf und blickt wieder durch das Objektiv. „Setz dich hin und sieh dir das an!“ Pria schiebt ihn auf den Hocker, auf dem sie gerade noch saß. Qori tut ihr den Gefallen.
Lange blickt er hindurch auf den kleinen Zellklumpen, der ständig in Bewegung zu sein scheint, dann schaut er sie ernst an. „Du meinst, diesmal hat es geklappt?“
„Vier Tage, Qori!“ Pria ist ganz außer sich vor Freude. „Und keinerlei Schwierigkeiten!
Alles völlig normal! Die Teilung verläuft hervorragend! Keinerlei Abstoßung!“
Sie zieht ihn vom Hocker hoch und umarmt ihn stürmisch. Sein Gesicht verschließt sich.
Pria mustert ihn verwundert. „Was hast du?“
Er sucht Abstand. „Hoffnung. Angst. Widerwillen. Dürfen wir das wirklich tun?“
„Nein, ist schon gut, Pria.“ Qori wendet sich ihr zu und versucht ein Lächeln. „Wir werden es tun. So wie wir es beschlossen haben.“
„So das Göttliche will“, flüstert Pria aufgeregt.
„Oder wir“, erwidert Qori kaum hörbar.
„Was quält dich, mein Freund?“
Lautlos ist Miguel zu ihm getreten, doch Qori hat ihn längst bemerkt. Er betrachtet von dem erhöhten, geschützten Beobachtungsposten aus die Zeitmaschine. Zahlreiche Mitarbeiter wuseln emsig wie Ameisen um die fremdartigen Gerätschaften herum. Letzte Tests vor dem großen Countdown. Spannung liegt in der Luft. Aufregung.
Miguel lacht leise. Er klingt ebenfalls etwas angespannt. „Ja. Sie freuen sich wie Kinder auf ein Geschenk, von dem sie nicht wissen, ob sie es lieben oder fürchten sollen.“
„Sie glauben es zu lieben, aber sie werden es noch früh genug fürchten. Sie haben immer noch nicht verstanden, worum es hier wirklich geht.“
„Vielleicht ist es besser so. Du erwartest von den Menschen oft zu viel, mein Freund.“
Qori schickt ihm einen amüsierten Blick. „So? Tue ich das? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
„Sie sind alle Kinder des Göttlichen.“
„Wir sind sein Ebenbild. Wir sind das Göttliche“, hält Qori dagegen.
„Und du bist der Göttlichste von uns“, meint Miguel lachend.
Qoris Stirn schlägt tiefe Falten. „Hör auf damit. Jeder trägt die Möglichkeit dazu in sich.“
„Richtig. Aber nur wenige Menschen wissen das und können das Wissen auch nutzen. Lass ihnen die Verschiedenartigkeit, Qori. Den freien Willen. Auch vom Göttlichen gegeben. Er erst macht das Menschsein aus.“
Qori seufzt tief, dann blickt er Miguel nachdenklich an. „Und was ist mir dir, mein Lieber?
„Der Zeitpunkt.“ Miguel seufzt ebenfalls. „Schau dir diese Maschine an. Sie erinnert mich an eine alte Fernsehserie, die vor etwa dreißig Jahren lief. Dort schickte man immer dieselbe Gruppe durch eine ähnliche Maschine in fremde Welten. Wir brauchen zwei dieser mächtigen Ringe, um auch die Zeit besiegen zu können. Sie wussten es damals noch nicht, aber ihre Vorstellung von der Zukunft hatte etwas Prophetisches.“
„Vieles von damals hat sich inzwischen erfüllt.“ Qori zeigt auf die ovalen Metallringe von etwa drei Metern Höhe. „Sie stehen sich gegenüber wie Freund und Feind. Der eine beeinflusst den anderen Ring positiv und negativ. Beides gleichzeitig. Und alles, was ihnen
dabei in die Quere kommt, verliert seinen Bestand, weil Positiv und Negativ nicht gleichzeitig an einem Ort zur selben Zeit existieren können.“
„So funktioniert sie, ja“, stimmt Miguel zu. „Einfach ausgedrückt.“
„Verändert man jetzt das Feld, kann man die aufgelösten Moleküle in jede gewünschte Zeit schicken. Vergangenheit, Zukunft ... wohin man will.“
„Wer wird gehen?“ Miguel lehnt sich gegen die Scheibe und mustert seinen Freund. „Wer ist der erste Mensch, der das Portal durchschreitet?“
Miguel lacht. „Liebend gern würde ich alles selbst erleben, was ich nur aus den Überlieferungen kenne! Aber jeder Ausflug in die Vergangenheit verändert die Zukunft. Das Risiko ist einfach viel zu groß, nur um persönliche Neugier zu befriedigen.“
„Ich weiß nicht, wen sie schicken werden.“
„Pria will gehen“, meint Miguel, ohne Qori aus den Augen zu lassen.
„Pria?“ Qoris Miene versteinert sich. „Nein.“
„Lass sie gehen, mein Freund. Sie hat das Göttliche auf ihrer Seite. Sie ist stark, sie wird es schaffen.“
Qoris Blick reicht bis auf den Grund von Miguels Seele. Dieser lässt ihn gewähren. Doch dann schüttelt Qori nur den Kopf, wendet sich ab und verlässt wortlos den Beobachtungsraum.
Miguel seufzt und blickt auf die Zeitmaschine.
Tage vergehen. Bald ist der Zeitpunkt gekommen, die Eizelle reif genug, um in eine lebende Gebärmutter gepflanzt zu werden. Sie alle fiebern diesem Ereignis mit den unterschiedlichsten Gefühlen entgegen.
Schräg vor ihnen steht der große Monitor. Das Zeitfenster, in dem sie die Vergangenheit beobachten können. Von hier aus können sie auch Kontakt mit den Reisenden halten, so hoffen sie.
Der Bildschirm zeigt eine Weltkarte. Miguel weist auf einen Punkt im Nahen Osten. „Hier ist nach meinen neuesten Erkenntnissen - und den Berechnungen unseres lieben Professors - der ideale Ausgangspunkt für das Experiment.“
Pria reibt sich nachdenklich die Nase. „Warum so abgelegen? Dort gibt es mehr Sand als Bewohner, kaum Zivilisation – sofern man das von dieser Zeit behaupten kann. Die Sterblichkeitsrate ist vermutlich immens hoch – wir haben keine Zeit mehr für einen weiteren Versuch.“
„Der Ort gefällt mir.“ Qori drückt mit den Fingern auf den Touchscreen und vergrößert den Ausschnitt. Seine Hand wandert suchend über den Bildschirm, um an einer bestimmten Stelle Halt zu finden. „Hier. Genau hier findet ihr die Frau, die ihr sucht.“
Pria schaut ihn fragend an. „Woher nimmst du diese Sicherheit?“ Qori lächelt sanft. „Ich kann sie spüren.“
„Durch die Zeit hindurch?“ Professor Zulgor sucht Qoris Blick. „Du erstaunst mich immer wieder, Qori.“
„Aber sie muss im passenden Zyklus sein, damit ich - ich meine, damit wir den Embryo verpflanzen können.“ Prias Blick flüchtet sich in ihre Handakte.
„Sie ist es“, erwidert Qori. „Und zwar genau an diesem Tag ...“ Er gibt weitere Daten ein.
Miguel notiert sich die neuen Daten und ergänzt seine Berechnungen. „Wieso überrascht mich das voraussichtliche Geburtsdatum nicht? Dann müssen wir nur noch herausfinden, wer sie ist. Aber das sollte nicht allzu schwierig werden.“
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