Niemand sieht die Tränen, die ihm heiß über die Wangen laufen, doch spürt sie jeder, der mit ihm verbunden ist. Seine Trauer erstickt ihre Fröhlichkeit, sie versinken in Schwermut, den sie nicht verstehen. Erdrückt von seinen Gefühlen scheint plötzlich nur noch Traurigkeit in ihnen zu sein. Sie verharren, unfähig etwas zu tun. Unfähig zu verstehen, woher diese Gedanken kommen. Sie weinen mit ihm, ohne es zu wissen.
Doch Qori fühlt ihre Verbundenheit und die Kraft ihres Mitgefühls. Tief atmet er durch und saugt die ihm geschenkten Energien in sich auf. Fühlt wie die Kraft zu ihm zurückkehrt. Die Kraft durchzustehen, was er begonnen hat. Die Sehnsucht, der Welt eine bessere Ordnung zu verschaffen. Die Liebe zu den Menschen zurückzubringen, von denen er sich distanziert, weil er ihre Unvollkommenheit nicht ertragen kann. Denn sie sind der Spiegel zu seiner eigenen unvollkommenen Seele ...
Letzte Tests vor dem großen Countdown. Sie blicken vom Überwachungsraum aus auf die jetzt laufenden Maschinen. Die Vibrationen durchlaufen das Vulkangestein bis hin zu ihren Zehen, den Körper hinauf und verstärken nur noch die ohnehin herrschende Spannung jedes Einzelnen.
Das tiefe Summen wie von tausend Hornissenschwärmen durchbricht selbst die dicke Panzerverglasung. Nichts scheint der tosenden Macht dieser Maschine standhalten zu können. Am allerwenigsten ihr Wille, diese Kraft beherrschen zu wollen.
Qoris Blick geht suchend zu Pria. Sie befindet sich im unteren Teil, in der Desinfektionskammer. Sie können es nicht riskieren, harmlose Krankheitserreger der heutigen Zeit in die Vergangenheit einzuschleusen, mit vermutlich verheerenden Folgen für die Bewohner dieser Zeit. Und damit auch für jeden von ihnen in der Gegenwart.
Ihre Nervosität überträgt sich auf ihn. Qori kann sie deutlich von den Anderen unterscheiden. Er schließt kurz die Augen, atmet tief durch, schickt ihr einen Schwall Ruhe.
Pria blickt zu ihm hoch, schenkt ihm ein zärtliches Lächeln, das er zögernd erwidert.
Sie soll seine Angst nicht spüren. Die Angst, sie zu verlieren. Zuzusehen wie ihr schöner Körper in diesem Ungeheuer von Maschine in seine Einzelteile zerlegt wird. Wie jedes Neutrino mit unvorstellbarer Wucht in eine andere Zeit geschleudert wird und den kaum erträglichen Schmerz des Zusammenflickens spüren.
Und doch wird er bei ihr sein. In jeder Sekunde. Alles spüren, was sie spürt. Sie mit seiner Kraft schützen und stärken. Niemals würde er sie alleine gehen lassen. Er weiß, wenn das Experiment missglückt und Pria in den Weiten des Raumes und der Zeit vergeht, wird auch ein Teil von ihm für immer sterben.
Ein wehmütiges Lächeln huscht über sein Gesicht. Er erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung. Hier im Stützpunkt. Sie war grade acht Jahre alt. Trotzig, rotzfrech, steckte sie nicht nur ihre Altersgenossen, sondern auch ihre Lehrer spielend in die Tasche.
Ihr Wissen, von dem niemand wusste, woher sie es hatte, weckte den Unmut der Wölfe.
Dem Professor blieb nichts Anderes übrig, als sie aus ihrem bisher gewöhnlichen Leben in die Tiefe des Berges zu entführen. Etwas, das er so nie gewollte hatte. Ihnen allen erschien es zu früh, doch das kleine Mädchen fügte sich erstaunlich gut ein.
Sie war so neugierig, erinnert sich Qori, sie wollte immer alles genau wissen. Hier gab es so vieles, das sie noch nicht wusste. Hier wurde sie gefordert. Ich forderte sie. Ich mochte sie. Spürte ihren starken Willen und ihr Potenzial. Sie wollte sich mit mir messen, von der ersten Sekunde an. Versuchte immer mich auszustechen, egal wobei. Sie hat mir nie verziehen, dass ich fort ging. Doch diesmal geht sie. Dahin, wohin ich ihr mit all meinen Fähigkeiten nicht folgen kann. Wie stolz sie darauf ist!
Gleich ist es soweit. Ein letzter Testlauf, bevor der erste Mensch den Schritt in die Vergangenheit wagt. Prias Ausrüstung liegt zwischen den ovalen Ringen, deren Metalllegierung durch die hohe Energiezufuhr in allen Regenbogenfarben schillert. Als würden sie sich verformen, sich selbst unter dem Feld auflösen.
Dann ist es soweit. Das Summen hat sich zu einem unerträglichen Brummen gesteigert, das in den Zähnen schmerzt. Ein greller Blitz zerreißt die einzelnen Moleküle der Ausrüstung.
Noch bevor die Augen wieder richtig sehen können, ist der Transport abgeschlossen. Der Platz zwischen den Ringen ist leer.
Qoris Blick sucht Pria. Sie können kaum glauben, was sie gerade getan haben. Sie verstehen es nicht. Sie benutzen eine Kraft, die sie mit ihren Formeln zu erklären versuchen, aber sie verstehen noch immer nicht das wahre Prinzip dessen. Dabei ist es so einfach ...
Leichte Euphorie mischt sich unter die nervöse Spannung der Mitarbeiter. Qori versucht sich abzuschotten. Er konzentriert sich ganz auf Pria und erlaubt sich keine anderen Gedanken.
Neben ihm beobachten die anderen Mitglieder das plötzliche Aufblenden in der nächtlichen, kargen Landschaft einer fremden, vergangenen Zeit. Weit genug von dem Dorf entfernt, um nicht gesehen zu werden. Leiser Jubel ertönt. Die erste zaghafte Freude über ein geglücktes Experiment.
Qori interessiert es nicht.
Die Maschine wird neu justiert. Mehrmals haben sie den Zeitpunkt auf die Sekunde genau überprüft. Es gibt keine Abweichung und es darf auch keine geben. Sie dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. Noch nicht.
Das Brummen vergeht zu einem leisen Summen. Die Ringe verlieren ihre Farbenpracht.
Kalter Stahl, dem man nicht ansieht, zu was er fähig ist.
Pria geht zögernd auf die Ringe zu. In ihren Händen hält sie behutsam eine Miniaturausfertigung der Säule aus dem Palmenhain. In ihr ihrer aller Hoffnung. Prias Schritte werden langsamer, stocken. Noch einmal blickt sie zu Qori hoch.
Sie hat Angst, erkennt Qori voller Zärtlichkeit. Wer hätte sie nicht? Geh mit dem Göttlichen, mein Engel, und pass gut auf unseren Boten auf ...
Pria nickt ihm zu. Sie hat seine Worte verstanden. Noch einmal atmet sie tief durch, dann nimmt sie ihren Platz zwischen den Ringen ein.
Der Projektleiter blickt hinauf zum Professor. Dessen Nicken ist kaum zu erkennen, doch ist es das Signal für alle. Klare Anweisungen erschallen im unteren Teil der Zentrale. Jeder kennt seinen Posten, jeder weiß, was er zu tun hat. Kein Fehler darf ihnen jetzt noch unterlaufen.
Ruhe breitet sich unter den arbeitenden Menschen aus. Routine. Sie haben gelernt, jeden anderen Gedanken zu verdrängen, sich ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Prias Leben hängt davon ab. Und auch das des kleinen Lebens, das ihrer aller Leben so nachhaltig verändern soll.
„Geht mit dem Göttlichen Segen“, flüstert Miguel neben Qori, der mit versteinerten Zügen den starren Blick nicht von Pria lässt.
Miguel spürt die starken Energiewellen, die Qori ihr schickt, und macht einen behutsamen Schritt zur Seite, um Qori mehr Raum zu geben. Aus seiner Aura zu treten, damit sein eigenes Energiefeld sich nicht mit deren vermischt.
Pria blickt auf die Säule in ihrer Hand, als das gleißende Licht der energetisch geladenen Ringe Tränen in ihre Augen treibt. Ihr letzter Blick flüchtet sich hilfesuchend zu Qori, noch bevor ihr der reißende Schmerz der Entmaterialisierung einen grauenvollen Schrei von den Lippen lockt, der jedem, der ihn hört, das Blut in den Adern stocken lässt.
Als das Licht vergeht, ist auch Pria fort. Sie starren auf die Stelle, an der sie eben noch stand.
Fort. Einfach fort ... Über Qoris Wangen laufen Tränen. Tränen des Schmerzes. Der Angst.
Der Hoffnung. Er lässt sie laufen. Er spürt sie nicht einmal.
Sie hat Angst. Sie spürt die Freude. Den Schmerz. Das Leid. Liebe. Das allumfassende
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