Ein hölzerner Engel löste sich vom Baldachin, fiel herunter und zerbrach.
Als es Mittag schlug, lagen sie Seite an Seite auf dem Rücken.
Starren Blicks betrachtete der Herzog ein großes, düsteres Porträt in einem schweren Goldrahmen, das dem Bett gegen über hing und eine höchst griesgrämige Person darstellte.
«Mein Vater», sagte er spöttisch kichernd. «Dieser bigotte Heuchler! Er hat mir das Leben schon sauer genug gemacht mit seiner Frömmelei. Hast du gesehen, wie er uns zugeschaut hat? Mir hat es richtig Spaß gemacht. Ich bin sicher, er war's, der den Engel zu Fall gebracht hat, vom Himmel aus.»
Er lachte schmetternd, sprang mit einem Satz hoch, schrie schmerzlich auf, sich mit beiden Händen den Rücken haltend, und sagte schließlich, ins Kabinett hinübergehend, er wolle eine Stärkung servieren lassen, denn man hatte sie verdient.
Jeanne hörte ihn ungeduldig klingeln. Ein Diener würde kommen, sie wusste nicht woher, und kurz darauf wieder verschwunden sein. Sie hatte ihn noch nie gesehen.
Louis war tatsächlich allein, als sie eine halbe Stunde später auf sein Rufen hin das Kabinett betrat, nackt wie Eva. Er hatte einen Morgenrock aus grüner golddurchwirkter Seide übergezogen. Auf dem rosenfarbenen Marmortisch standen eine Poularde in Gelee, drei Rebhühner im eigenen Saft, Rinderbouillon, eine Schale Erdbeeren und zwei Champagnerkelche.
«Oho! Habe ich einen Hunger, mein dicker Tauberich!»
Sie riss der Poularde einen Schenkel aus und verschlang ihn gierig.
Sie verspeisten die Rebhühner, machten der Poularde den Garaus, ließen die Erdbeeren verschwinden und tranken eine Karaffe Champagner. Dann nahm Louis Jeanne bei der Hand und führte sie in ein angrenzendes Zimmer, wo eine Kupferwanne stand, die der unsichtbare Diener mit warmem Wasser gefüllt hatte.
«Ich glaube, so etwas nennt man tub», sagte Louis. «Mein Sohn, der Herzog von Chartres, ist versessen auf alles Englische und hat mir dieses Ding da schicken lassen.»
Während er sprach, hatte er Jeanne hochgehoben. Er setzte sie behutsam ins Wasser, seifte sie ein und rieb sie, ohne auch nur ein Winkelchen zu vergessen, mit bloßen Händen ab, woraufhin Jeanne, heftig erregt von den Aufmerksamkeiten, die er ihr erwies, eine neue Audienz erbat.
Nachdem die hölzernen Engel wiederum eine Stunde lang hatten erzittern müssen, ließ sich der Herzog in das nun eintretende Schweigen gähnend vernehmen: «Chahh . . .Choohhh ...»
«Sollen wir nicht ein Weilchen schlafen, mein Louis?» fragte Jeanne mit erlöschender Stimme.
«Ja, Liebste. Wo hast du das alles nur gelernt?»
Sie schlief schon halb und vermochte nur mehr zu hauchen: «Ich weiß nicht. . . das ist angeboren ...»
Als sie sich gegen sieben Uhr abends beim letzten Vogelgezwitscher in dem von schräg und golden einfallenden Sonnenstrahlen durchfluteten Schlafzimmer wieder anzog, fragte sie den Herzog, der für einen in Versailles anberaumten Botschafterempfang Galakleidung anlegte, warum er mehr als einen Monat gewartet habe, bevor . . .
«Ehrlich gesagt», antwortete er, «dir bei den Chorproben zuzuschauen, deine Formen unter der weißen Kutte zu erahnen und mich daran zu weiden, das war die eine Seite. Dich zu entführen — denn letztlich habe ich dich ja entführt —, das war schon schlimmer. Aber dich zu meiner Geliebten zu machen . . . sagen wir, da hatte ich gewisse Skrupel. Plötzlich traute ich mich nicht mehr . . . Ich fürchtete . . . wie soll ich das sagen . . . plötzlich über dich herzufallen . . . Und siehst du, je mehr ich mich zurückhalten musste, desto mehr liebte und begehrte ich dich. Doch fürchte ich, du hast daran gezweifelt.»
Sie lachte unbekümmert. «Ich zweifle nicht mehr, Monseigneur. Ihr habt meine Zweifel mit Kanonen ausgeräumt.»
«Nach gutem militärischen Brauch», sagte er lachend. Und dann, nach einem Moment des Schweigens wieder ernst werdend, erwog er fast gravitätisch: «Vielleicht war da auch noch etwas anderes.»
Er blickte ihr fest in die Augen, ernst, ja sogar melancholisch: «Ich muss dir etwas erklären, Jeanne. Wir Herzöge, Fürsten und Könige sind eine begehrte Beute. Unser Vermögen und unsere Macht kennzeichnen uns als ein gutes Geschäft, wie die Kaufleute sagen. Aber wenn wir auch Herzöge, Fürsten oder Könige sind, so sind wir doch auch Menschen und möchten nur um unser selbst willen geliebt werden.»
«Ihr habt also geglaubt...» rief sie entrüstet dazwischen.
Er schnitt ihr das Wort ab, indem er ihr behutsam seine Finger auf die Lippen legte. «Ich habe nichts geglaubt . . .aber du bist ein aufgewecktes, intelligentes und schlaues Mädchen, ungemein verführerisch und von einer Schönheit, die selbst Heilige zu Fall bringen würde. Warst du ehrlich an jenem Tag im Kloster, als du so zärtlich zu mir warst? Ich habe nicht daran gezweifelt. Und doch musste ich zweifeln. Denn ich bin nun mal Herzog und außerdem nicht mehr der Jüngste.»
«Und jetzt?»
«Ich habe dich diese ganzen Wochen über beobachtet, dir zugehört, ja, dich gleichsam ausgeforscht. Doch dein zärtliches und leidenschaftliches Verhalten mir gegenüber blieb immer gleich; dein Blick, dein Lächeln, deine Aufrichtigkeit haben mich schließlich vollends von deinem Vertrauen und deiner Zuneigung überzeugt.»
«Und den letzten Beweis hast du heute bekommen, mein Liebster», sagte sie mit betörendem Charme und jenem Lächeln, das nur ihr eigen war. Er nickte bejahend und schloss sie nochmals in die Arme.
«Und außerdem hast du nie etwas von mir verlangt», sagte er gütig lächelnd.
«Verlangt? Was hätte ich denn verlangen sollen?» Sie schien völlig entgeistert.
«Oh, wie süß das klingt!» rief er, vor Wohlbehagen lachend, aus.
«Ich habe nichts von dir zu verlangen, Louis.»
«Nach diesem Satz sollt Ihr alles von mir bekommen, Mademoiselle, mon amour.»
So vergingen einige wunderbare Monate ungetrübter Liebeswonnen. Es wurde etwa Mitte September, und Jeanne hatte noch einen weiteren Grund, glücklich zu sein. Sie erforschte nicht nur die Geheimnisse der Liebe, die ihr inzwischen schon wohlvertraut waren, sondern übte sich bereits auch auf gesellschaftlichem Parkett. Seit einiger Zeit verbrachte sie dreimal wöchentlich einen Teil ihres Nachmittags im eleganten Palais einer Madame de Delay, der reichen Witwe eines Steuereintreibers, die einen schöngeistigen Kreis bei sich zu versammeln pflegte. Der Herzog, der sie ein wenig kannte und vor allem um ihren Ruf als Dame von Geschmack und Anstand wusste, hatte ihr bei einem flüchtigen Zusammentreffen in Versailles zu verstehen gegeben, dass er ihr äußerst verbunden wäre, wenn sie eine junge Dame, deren Wohl ihm am Herzen liege, in die Regeln des gesellschaftlichen Lebens einzuführen die Güte haben wolle.
«Ich verfolge dabei die lautersten Absichten», hatte er hinzugefügt. Sie sei eine Waise, und ihr Vater, der unter seinem Kommando gedient habe, sei im Jahr zuvor an seiner Seite gefallen. Er fand es reizvoll, zu sagen, sie hieße Mademoiselle L'Ange. Denn «Ange», Engel, nannte er sie.
Madame de Delay hatte dem Herzog natürlich nicht ein Wort geglaubt. Doch war dieser herben, sittenstrengen Frau nichts anderes übriggeblieben, als sich seinen Wünschen zu beugen, wenn sie auch innerlich raste, zum Vergnügen dieses alten Lüstlings irgend so einer hergelaufenen Dirne, die in ihrem erlesenen Zirkel vielleicht nur Unfrieden stiften würde, nun auch noch Sitte und Anstand beibringen zu müssen. Doch kaum hatte sie Mademoiselle L'Ange gesehen, da wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte.
Mein Gott, dachte sie, als sie das eingeschüchterte Kind zum ersten Mal bei sich empfing. Mein Gott, wie sie ihren Namen verdient! Wirklich ein kleiner Engel! Diese Sanftmut, diese Bescheidenheit, dieses keusche Auftreten! Und ein frommer Engel noch obendrein! Und wie verhalten sie sprach! Schon nach wenigen diskreten Fragen wurde der scharfsinnigen und seelenkundigen Madame de Delay offenbar, dass man nicht nur bescheiden, keusch und scheu war, sondern auch rein gar nichts vom Leben wusste. So kam es, dass Jeanne auch der kleine Engel von Madame de Delay wurde und der Herzog in deren Achtung gleich um zwanzig Punkte stieg und sie von nun an zu jenen zählen konnte, die Gutes über ihn sagten.
Читать дальше