Das schöne Kind hatte, während er sprach, schleunigst die Augen niedergeschlagen, mit einer Unterwürfigkeit, die in Wirklichkeit den Gipfel der Koketterie darstellte.
«Nein, nein», sagte er, «öffnet die Augen ruhig wieder; ich wünsche ganz und gar nicht, dass Ihr mir auf diese Weise Eure Gedanken verbergt.»
«Wie es Euch beliebt, Monseigneur», sagte die kleine Jeanne. «Aber . . . wünschen Monseigneur mich demütig oder dreist?» fügte sie mit einem zweideutigen Seufzer hinzu.
«Ich will nur eines: in Eure Augen blicken», entgegnete er mit höfisch-galanter Schmeichlerstimme. Das waren ja außer gewöhnlich schöne Augen! Und so nahe hatte er sie noch nie gesehen. Augen von tiefem Violettblau und funkelnd wie Email. Ab und an verschleierten dichte, lange Wimpern ihren Glanz, doch nur eine Sekunde lang, und offenbar nur, um gleich darauf die Eindringlichkeit dieses Blicks noch besser zur Geltung zu bringen.
Monseigneur verharrte in Schweigen, um in Ruhe die einzelnen Züge dieses bezaubernden Gesichts zu betrachten, was ihm bisher, da er Jeanne nur in der Öffentlichkeit gesehen hatte, aus Gründen der Schicklichkeit versagt geblieben war.
Die Nase war makellos geformt; die Lippen rot und schön geschwungen; der Teint war rein und schimmernd wie heller Bernstein — und Monseigneur spürte, wie sich nicht nur sein Gesicht von Minute zu Minute stärker rötete.
Jeanne reckte und dehnte ihre Glieder, setzte sich mit einer geschmeidigen und zugleich trägen Bewegung wieder auf und ließ ihre Beine von der Bettkante baumeln, wobei ihre Knie die des Herzogs berührten. Er erschauerte, holte tief Luft, als wolle er zu einer Strafpredigt ansetzen, doch da ihm immer noch der Atem stockte, war sie es, die als erste sprach.
«Ihr wollt mich also schelten, Monseigneur?» fragte sie mit der gleichen melodischen und betörenden Stimme, die der Herzog aus ihrem Sologesang kannte und die aus ihm in kürzester Frist einen fanatischen Liebhaber der Gesangskunst gemacht hatte.
«In der Tat», entgegnete er mit gespieltem Autoritätsgebaren. «Doch nicht, ehe ich weiß, was Ihr Euch zuschulden kommen heißt. Sollte sich das, was man mir erzählte, als richtig erweisen, so wird mein Zorn fürchterlich sein!»
Seine Autorität sank jedoch sogleich wieder in sich zusammen, als er gewahr wurde, dass sie von neuem, erstaunlich unbefangen und ungeheuer aufregend, lächelte.
«Monseigneur sind viel zu nett und liebenswürdig, um schrecklich zornig werden zu können», sagte sie gelassen. Und verblüfft musste er feststellen, dass sie ihm doch wahrhaftig zublinzelte!
«Hat man so etwas schon gehört?» rief er aus, nur mühsam das Lachen unterdrückend, das all sein verzweifeltes Bemühen um Würde zunichte gemacht hätte. «Es entzieht sich vielleicht Eurer Kenntnis, Mademoiselle Becu, dass ich nicht nur der Schirmherr dieses Klosters bin ...»
«Sondern auch noch der Verwandte Seiner Majestät Ludwigs XV. ...»
«Nicht nur das, mein Fräulein, nicht nur das! Ich war Generalfeldmarschall, habe Städte belagert und befreit und dabei mehr als einmal bewiesen, dass ich auch fürchterlich werden kann.»
«Oh, Monseigneur», sagte sie, ihm unvermittelt und anmutig die Hände küssend, «glaubt Ihr wirklich, ich wüsste nicht, dass Ihr Heldenhaftes geleistet habt? Darum liebe ich Euch ja, und deswegen habe ich auch keine Angst vor Euch.»
«Ach so, soso ...» stammelte der Herzog. Er fühlte sich zwar geschmeichelt, doch auch leicht aus der Fassung gebracht. Die kühlen Hände Jeannes auf den seinen hatten ihn vollends den Faden verlieren lassen.
«Wo waren wir doch stehengeblieben?» fragte er unbeholfen.
«Ihr erzähltet mir gerade von Euch», antwortete sie mitbetörender Miene. Ein echtes Schmeichelkätzchen, fürwahr!
«Doch dazu bin ich nicht hier», warf er ein und sprang auf.
Er hob die Stimme, denn er meinte, einen knarrenden Schritt im Gang vernommen zu haben. «Nun, Mademoiselle Becu, man hat scheint's die Tugend besudelt? Beichtet mir, wie das kam. Und haltet mich ja nicht zum Narren!»
Er hatte sich der Tür genähert, sie aufgerissen — doch keine Menschenseele, der Gang war leer.
«Erzählt mir den Hergang», wiederholte er, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, mit plötzlich veränderter Stimme. Nun war er es, der, kaum dass er wieder Platz genommen hatte, die Hände von Mademoiselle Becu ergriff. Doch sie sprach nicht.
«Stimmt es, dass Ihr mich liebt?» fragte er entflammten Blicks.
«Es stimmt, Monseigneur.»
«Ich bin aber doch schon recht alt, gehe auf die Vierzig zu und könnte Euer Vater sein.»
Dies wurde in immer leiserem Ton gesprochen, zuerst nüchtern feststellend, dann eher melancholisch. Obwohl er noch keine fünfunddreißig Jahre alt war, beliebte es dem Herzog, den Charme des reifen Mannes auszuspielen, der seinen Eindruck auf jüngere Mädchen nur selten verfehlt. Er hatte nicht unrecht, denn schon rief sie, ebenfalls mit flammen dem Blick:
«Mein Vater? Dem Himmel hat es gefallen, dass Ihr nicht seid, Gott sei Dank! Wäret Ihr mein Vater, müsste ich mich ja schuldig fühlen, das zu empfinden, was ich für Euch empfinde.»
So eine kleine Schmeichlerin! dachte er. Sie wird mich noch bis aufs Blut peinigen. Er war im höchsten Maße erregt, doch entsann er sich noch rechtzeitig seiner Pflicht.
«Nun?» fragte er wieder.
«Was, nun?»
«Wie ist das mit der Unschuld? Wir haben sie also verloren?»
«Noch nicht, Monseigneur», entgegnete sie, in helles Lachen ausbrechend. «Ich habe nur versucht zu fliehen, heute früh, doch mein Plan wurde vereitelt.»
«Zu fliehen? Von hier? Dies ist doch ein schöner Ort!»
«Schön nennt Ihr das?» Sie hatte es fast herausgeschrien, doch dann, plötzlich ernst, den hübschen Mund leicht verkniffen und die Augen voller Tränen, was sie noch liebreizender machte, fuhr sie fort:
«Seit Jahren bin ich schon hier eingesperrt, Monseigneur! Es sind schon so viele Jahre, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann. Ich werde alt, Monseigneur, und sehe nur Mauern und Nonnen.»
«Alt? Ihr seid doch erst fünfzehn.»
«Muss ich denn zwanzig werden, um endlich leben zu dürfen?»
«Bevor man leben darf, wie Ihr das nennt, muss man erst etwas lernen.»
«Gut: Ich habe Schreiben, Rechnen, Zeichnen, Musik, Geschichte und Briefeschreiben gelernt . . .Genügt das nicht?»
Jetzt weinte sie wirklich. Wie ein kleines Mädchen, was sie ja eigentlich auch war, dachte der Herzog, hin und her gerissen zwischen Rührung und dem glühenden Bedürfnis, sie zu trösten. «Wenn Ihr wüsstet, Monseigneur, wie arm wir sind. Nichts dürfen wir für uns behalten, nicht einmal eine Puppe . . . Und dieses ewige Schweigen! Im Unterricht, im Refektorium, in den Schlafsälen . . . Lachen ist eine Sünde. Im Winter über Kälte zu klagen, ist eine Sünde. Die Hände aus den langen Kuttenärmeln herausstrecken — eine Sünde. Oh, Monseigneur, hat Gott denn wirklich gewollt, dass das Leben so düster ist?»
«Na, na», wandte er vorsichtig ein.
«Darum habe ich zu fliehen versucht. Aber Gott hat es nicht gewollt.»
«Sprecht doch nicht ständig von Gott!» warf der Herzog ein.
«Er verrät niemandem seine Absichten.»
«Dieses Biest von Schwester Blanche ist schuld!» kreischte Jeanne nun zornig, von Gott ablassend. «Sie hat mich erwischt, dabei war ich bereits durch die Hinterpforte des Gemüsegartens hinaus. Aber Gott wird es ihr schon heimzahlen!»
«Ihr seid wirklich ein frommes Geschöpf», sagte der Herzog.
Einen Augenblick saßen sie schweigend beisammen. Jeanne zog die Nase hoch, und Monseigneur reichte ihr sein Taschentuch. Gleichzeitig versuchte er, ihr klarzumachen, dass ihre Familie sie, wenn ihr die Flucht gelungen wäre, doch unverzüglich, mit gutem Zureden oder auch mit Gewalt, zurückgebracht hätte. Aber hatte sie überhaupt eine Familie?
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