Inga Berg
Wo Anders
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Inhaltsverzeichnis
Titel Inga Berg Wo Anders Dieses ebook wurde erstellt bei
Esther
Drei Kieselsteine
Das Kummertier
Wenn Rotze schwimmt
Schatten der Wahrheit
Großer, dummer, dicker Maikevogel
Tristan und Esther
Wenn Freundschaft stirbt
Carla oder wie fühlt sich der Tod an
Esther kommt zurück
Fräulein Anneliese Rosalind
Die Wirklichkeit des Vaters
Die Flucht
Spaghetti im Bett
Auch nur ein Traum
Wenn sich Steine auflösen
Impressum neobooks
Erste Auflage 2012
© Inga Berg, 2012
inga-berg@t-online.de
„ Wo Anders“
ISBN 978-300-037709-9
Wo Anders
Lautlos tanzte der Wind durch die Äste des alten Baumes, der direkt vor meinem Fenster stand, und malte damit ein bewegtes Bild aus Licht und Schatten auf die Wand meines Kinderzimmers. Das dramatische Schauspiel fand ein jähes Ende, als sich eine Wolke vor den hellen Mond schob und den Raum in völlige Dunkelheit tauchte.
Angestrengt lauschte ich in die Stille, suchte nach Stimmen, Geräuschen oder wenigstens nach einem Rauschen, einem Flüstern, nach einem auf leisen Sohlen schleichenden Schritt. Meine Ohren schienen wie hochsensible Antennen ausgefahren und auf das kleinste Geräusch reagierend. Doch da war nichts.
Langsam setzte ich mich auf, immer noch mit weit geöffneten Sinnen. Vorsichtig schob ich meine nackten Füße unter der Decke hervor, um sie geräuschlos auf den kalten Dielenboden zu setzen. Bedächtig verlagerte ich mein Gewicht von der Bettkante auf meine Beine, als ich plötzlich zusammenzuckte. Noch konzentrierter nahm ich die Stille in mir auf, sog sie tief in mein Bewusstsein. Eingehüllt in Schweigen lag mein Zimmer vor mir. Nur die Schatten der Nacht tanzten erneut an den Wänden. Langsam löste ich mich aus meiner stummen Starre und sah mich um. Meinem Bett gegenüber stand ein großer Eichenschrank. Auch über seine Ornamente und Schnitzereien sprangen die Geschöpfe der Phantasie und brachten ihn damit zum Leben, setzten seine ganz eigenen Wesen in Szene.
Beinahe hätte ich mit all diesen Elfen, Gnomen, Fabelwesen und Märchengestalten mitgetanzt, mich davontragen lassen in ihre ihnen eigene Welt. Wäre selbst einer von ihnen geworden. Doch ich war nicht einer von diesen traumgleichen Fantasiegestalten, ich war Maike von Hochfelden, gerade neun Jahre alt und viel zu groß für mein Alter. Mutter versuchte mich zuweilen damit zu trösten, dass ich bei so einem stattlichen Mann, der mein Vater nun einmal sei, eben nicht klein und zierlich sein könnte. Aber ich war doch kein Mann und wollte auch keiner sein. Hätte ich doch ihre zierliche Gestalt geerbt, aber auch die war längst nicht mehr so schlank wie auf dem Hochzeitsfoto. Und da gab es noch etwas, worauf ich liebend gerne bei der Verteilung der Erbanlagen verzichtet hätte.
Meinen Jähzorn, sagte meine Mutter, hätte ich ebenfalls von seiner Seite der Familie mitbekommen. Ich hasste ihn dafür. Diese unbeherrschbare Wut, die von tief innen aufstieg, sich im ganzen Körper ausbreitete und einem jeden Gedanken vergiftete, einem die Luft zum Atmen nahm und sich früher oder später in einem blinden Anfall von unbändiger, türkisgrüner Gewalt Luft verschaffte. Nein, ich war nicht zart und vergänglich!
Inzwischen hatte ich mich, vorbei an achtlos hingeworfenen Kleidern, Schuhen und Spielsachen, zum Fenster geschlichen. Der alte Baum zwang sein Nachtschattenvolk zurück in seine Äste. Und sie gehorchten. Je heller der Himmel wurde, je mehr sich das schweigende Dunkelblau durch beinahe schon silbergleißendes Licht verdrängen ließ, umso schwächer wurden meine Besucher, bis sie sich ganz in die von schwarz auf immer grüner werdenden Zweige zurückzogen.
Ein leichter Schauer lief mir den Rücken herunter. Diese Nacht konnte einfach noch nicht zu Ende sein. Ich schloss meine Augen, ballte meine Hände zu Fäusten, so fest, dass meine Nägel schmerzhafte Spuren in meinen Handflächen verursachten und wünschte mich zurück in das Dunkel.
Doch die Zeit ließ sich nicht aufhalten. Mein Wecker surrte leise, um dann in einem ohrenbetäubenden immer wiederkehrenden Piepton die friedliche Stille zu zerreißen. Intensivmedizin und Herzstillstand schoss es mir durch den Kopf. Blitzartig war ich zurück an meinem Nachttisch und tötete dieses kreischende Ding. Ich zog den Stecker, brachte ihn zum Schweigen. Doch es war zu spät. Nebenan, im elterlichen Schlafzimmer, hörte man das erste Gähnen des Morgens, das erste Knatschen der Bodendielen, wenn sie unter menschlichem Gewicht leicht nachgaben und die Steife der Nacht wegraunten. Die Holzbohlen sprachen miteinander, drehten und dehnten sich, machten sich bereit. Ich war wieder unter meiner Bettdecke verschwunden, kniff die Augen zusammen und harrte der Dinge, die nun unweigerlich ihren Lauf nahmen. Mutters Schritte hallten durch mein Bewusstsein. Ihr süßes Parfum legte sich um meine Sinne. Zielstrebig ging sie zum anderen Ende des Raumes, zog die Gardinen zurück und öffnete die Fenster. Ein leiser Lufthauch streichelte mein Gesicht. Das Leben mit all seiner Beharrlichkeit und Aufdringlichkeit wogte in mein Zimmer. Die Luft war erfüllt von Vogelstimmen, die man Zug um Zug geradezu einzuatmen schien. Und mit jedem Atemzug kam ich dem Tag näher als dem Traum.
„Maike, aufstehen!“ hörte ich meine Mutter zum wiederholten Male sagen. Immer gleich freundlich. Wie die nette Stimme aus dem Lautsprecher des Supermarktes um die Ecke, die jeden Tag ein neues Sonderangebot offerierte.
Und da war es schon wieder „Maike komm, du musst aufstehen, sonst verpassen wir den Bus“. Den Bus? Plötzlich war ich hellwach. Der Bus! Heute war der Tag meiner Abschiebung. Doch noch bevor ich mir einen Schlachtplan ausdenken konnte, irgendeine furchteregende, ansteckende Krankheit oder eine Strategie, die den Zeitplan meiner Mutter durcheinander bringen würde, kam sie auch schon in mein Zimmer. Zustimmend lächelte sie mich an und öffnete meinen Kleiderschrank. Vorsichtig blinzelte ich in die aufgehende Sonne die mein Zimmer orangerot durchflutete. Mutters Schatten schob sich vor mein Gesicht. Schnell hatte sie mein kirschrotes Lieblings-T-Shirt und eine alte, zerschlissene Jeans mit bunten Flicken auf den Knien und roter Bordüre am Ende der Hosenbeine herausgeholt. Letztere war neu und diente der optischen Verlängerung der Hochwasserhose. Kopfschüttelnd betrachtete sie mich. „Du wächst einfach zu schnell“ sagte sie mehr zu sich selbst und wandte sich wieder meinem Kleiderschrank zu. Wohlgefüllt mit den schönsten und teuersten Kinderkleidern, zog sie doch geschickt das älteste Sweatshirt aus der geordneten Fülle und streckte es mir entgegen.
„Nein“ schrie es in mir auf „nicht dieser olle Pullover und außerdem, es ist Sommer!“
Aber, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, hielt sie mir dieses Ding mit Nachdruck und einer Unerbittlichkeit in ihrem Blick entgegen, der jedem Widerspruch den Boden nahm. Ich zog ihn an. Türkisgrün blitzte es in mir auf. Ich wollte diese Hose nicht, nicht diesen hässlichen, hellblauen Pullover und schon gar nicht ins Sommerzeltlager. Ich spürte, wie es mir die Kehle zuzog, wie Tränen meinen Blick verschleierten und ich kämpfte - kämpfte um einen klaren Verstand, um Ideen, diesen Weg nicht gehen zu müssen. Ich wusste, dass meine Mutter in meiner Abschiebung nur die Anweisung meines Vaters befolgte, aber genauso gut wusste ich, dass ich meiner Mutter nicht kampflos nachgeben würde. Ohne Eile nahm ich meiner Mutter den dargebotenen Pullover aus der Hand und legte ihn neben mich aufs Bett. Meine Gedanken rasten. Dann nahm ich auch die Hose entgegen, die gleich darauf freundlich bestimmt angereicht wurde. Ich platzte beinahe vor Wut. Der grobe Stoff glitt durch meine Hände. Der Knopf am Bund saß bedenklich locker. Mit einem Ruck in einem unbeobachteten Moment und er war ab. Meinen Jubel wohlweißlich verbergend und mit einem unschuldigen Blick, gab ich meiner Mutter die marode Hose wieder zurück. Skeptisch musterte sie zuerst den Hosenbund und dann mich. Den Knopf hatte ich immer noch in der Hand. Langsam und unauffällig ließ ich meine geschlossene Faust unter der Bettdecke verschwinden. „Was hast du da in deiner Hand?!“ schnitt die Stimme meiner Mutter scharf in meine Engelsmiene.
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