»Aua.« Mehr vor Überraschung als vor Schmerz schrie er auf. Er ruderte mit den Armen und bekam Conny zu fassen. Unmittelbar neben ihnen klatschte das Ungeheuer auf den Boden.
»Das war knapp. Eigentlich dachte ich, Feuer spuckende Drachen sind ausgestorben.« Erleichtert atmete Conny auf und musterte den gefallenen Drachen. Ungefährlich und ohne Leben lag er vor ihr.
»Das täuscht«, lachte Martin, und strich sich durch die gerade eben gekämmten Haare, so dass sie wieder strubbelig in alle Richtungen standen. »Die Ungeheuer gibt es heute noch. In jungen Jahren tarnen sie sich allerdings hervorragend.«
Und Andreas fügte spöttisch hinzu: »Vor so ein bisschen Pappe und Stoff Angst zu haben, dazu gehört einiges.« Erst jetzt bemerkte Conny, dass er sie noch immer umfangen hielt. Langsam und sehr zögerlich befreite sie sich aus der kräftigen Umarmung. An seinem Blick erkannte sie, wie sehr er es bedauerte, sie nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe zu fühlen.
»Wo sind wir denn hier gelandet?« Skeptisch sah Martin sich in dem Korridor um. »An der Tür stand doch ...«
»Wir haben uns nicht geirrt«, stellte Andreas fest und blickte sich noch einmal genauer um.
Die Mitarbeiter des Tanzclubs waren eifrig dabei, Figuren und Dekorationsstücke umzuräumen. Keiner beachtete die Vier, die inmitten des Chaos ein wenig verloren herumstanden.
»An wen müssen wir uns wenden?«, fragte Ulrike.
»Auf der Homepage stand ein Ansprechpartner.« Conny krauste die Stirn und überlegte fieberhaft. »Mir fällt der Name nicht mehr ein. Kommt einer von euch darauf?«
Einheitliches Kopfschütteln.
»Wir müssen uns durchfragen«, meinte Andreas und ging frohen Mutes auf eine Frau mittleren Alters zu, die sich bemühte, die Stoffbahnen des Drachens zu bändigen.
»Entschuldigen Sie ...«, begann er. »Ich suche den Tanzlehrer. Wir vier«, er deutete hinter sich, »haben den Aushang in der Uni gelesen.«
Ohne in ihrer Arbeit innezuhalten, nickte die Frau. »Da drinnen im Saal, bei den Ruinen finden Sie Herrn Koberer. Er ist zuständig.«
Andreas bedankte sich und wagte sich zwischen die Kulissenschieber. Behutsam schlüpften sie an den Dekorationen vorbei in den Saal, stiegen im Gänsemarsch über Holzleisten und bückten sich, als eine Leinwand auf sie zusegelte.
Die Ruinen erwiesen sich als Konstrukte aus Pappmaché und Sperrholz.
»Vorsicht, nicht anfassen«, warnte ein Mann in einer fleckigen Latzhose. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wir möchten uns für den Fortgeschrittenenkurs im Paartanz anmelden«, sagte Conny und atmete tief durch. Der Geruch nach Farbe stach ihr in die Nase. »Sind Sie Herr Koberer?«
»Ja.« Er richtete sich auf. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er lächelte freundlich und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Kommen Sie mit ins Büro. Ich werde nachsehen, ob ich noch Platz in dieser Gruppe habe.«
Sie folgten ihm hinaus in den Korridor bis an dessen hinteres Ende. In dem kleinen Zimmer zog er einen Ordner hervor und blätterte darin.
»Sie haben Glück. Sechs Plätze sind noch frei.«
»Dann sind es jetzt nur noch zwei«, sagte Andreas rasch. Erleichtert beobachtete Conny, wie Herr Koberer Anmeldebögen aus einer Schublade kramte und sie ihnen zuschob.
»Bitte ausfüllen und unterschreiben.«
Conny nahm den einzigen Kugelschreiber, der auf dem unordentlichen Schreibtisch lag, und machte den Anfang. Dann kamen Ulrike und Martin. Ganz zum Schluss füllte Andreas sein Formular aus. Verträumt beobachtete Conny ihn dabei. Seine schmalen Finger hielten den Schreiber in unnachahmlicher Eleganz. Jede seiner Bewegungen faszinierte sie. In Gedanken malte sie sich aus, wie es sein würde, wenn er sie liebevoll in den Arm nahm und sie das Spiel seiner Muskeln spürte.
»Danke schön.« Herr Koberer nickte. »Die Kursgebühr bezahlen Sie bitte bar oder per Überweisung. Der Unterricht fängt am Mittwochabend statt.«
Er begleitete die Studenten bis zum Ausgang und verabschiedete sich von ihnen. Schwungvoll öffnete Martin die Tür, und sie traten auf die Straße hinaus.
»Was machen wir nun?«, fragte Andreas. »Wir haben es geschafft. Habt ihr Lust, noch einen Schluck bei Ernies zu trinken?«
Ohne lange zu überlegen, nickte Conny. »Gern. Das muss gefeiert werden.«
»Also, auf zu Ernies !« Übermütig hakte sich Andreas bei Conny unter und zog sie sachte davon.
Conny schloss einen Augenblick die Augen. Sie glaubte, einen halben Meter über dem Boden zu schweben. Ihre Studienzeit schien unter einem guten Stern zu stehen.
Um die Nachmittagszeit war die Kneipe schlecht besucht. Ein wenig verloren saßen sie da und ließen sich etwas zu trinken bringen.
»Also Prost. Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.« Andreas hob sein Glas, und die anderen kamen diesem Beispiel nach.
»Ich freue mich schon auf die erste Tanzstunde. Das wird sicherlich lustig«, sagte Martin in die Runde. »Im Club wimmelt es immer von Zuschauern. Da hast du sofort das Gefühl, als würden deine Schuhe wie Leim am Boden kleben.«
»Leim, ja genau. Danke für das Stichwort, Martin.« Andreas stellte sein Glas mit Schwung ab. »Könnt ihr Mädels mit Leim umgehen?«
Die Frage irritierte Conny. Worauf wollte er hinaus?
»Wozu wird diese Fähigkeit benötigt? Denkst du ans Dekorieren des Saals?«
»Das kommt bestimmt irgendwann auf uns zu. Nein, ich dachte an etwas anderes. Es geht jetzt auch nicht um Leim, sondern um Kleister. Also, wie sieht es aus? Ja oder nein.«
»Natürlich können wir. Mein Appartement ist das beste Beispiel.«
»Ihr scheut auch nicht davor zurück, Tapeten von den Wänden zu reißen? Abgebrochene Fingernägel und Farbkleckse im Gesicht werden mit stoischer Ruhe hingenommen? Kein hysterisches Gejammer?«
»Dumme Frage, wir scheuen vor nichts zurück! Das Einzige, was uns schreckt, sind Besserwisser«, konterte Ulrike.
»Das ist fein. Dann habt ihr garantiert am nächsten Wochenende Zeit.«
»Ach neee. Sollen wir dir beim Renovieren helfen? Scheust du dich vor der vielen Arbeit? Entweder rückst du mit der Sprache raus, oder du kannst auf unsere Hilfe verzichten.«
»Schon gut, schon gut, wenn ihr euch nicht gedulden könnt ...« Andreas griff nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck. Dabei war er sich der Aufmerksamkeit aller bewusst. Verschwörerisch blickte er in die Runde. »Ihr seht das völlig richtig. Ich plane eine Renovierungs-Party. Vormittags wird gearbeitet und nachmittags gefeiert. Habt ihr Lust?«
»Da fragst du noch?« Aus funkelnden Augen sah Conny ihn an. »Wieso sagst du das nicht gleich! Für solche Aktionen sind wir immer zu haben. Nicht wahr, Ulrike?«
»Ja, doch. Wann?«
»Samstag früh.«
*
»Mir ist schlecht. Wahrscheinlich habe ich mir heute Mittag den Magen verdorben«, jammerte Conny. »Unter solchen Voraussetzungen werde ich keinen einzigen, vernünftigen Schritt zustande bringen.«
»Ist ja gut. Garantiert hast du nichts Verkehrtes gegessen. Es ist nur die Aufregung, die dir auf den Magen schlägt. Wieso eigentlich? Andreas?«
»Er ist ein toller Typ. Ich blamiere mich mit Sicherheit bis auf die Knochen.«
Aufmerksam betrachtete Ulrike das perfekt geschminkte Gesicht ihrer Freundin. Die leichte Blässe darunter konnte sie nur erahnen. Sie schob Conny das noch halbvolle Cola-Glas über den Tisch.
»Trink davon. Zucker ist gut für die Nerven.«
Gehorsam nahm sie ein paar Schlucke, und langsam beruhigte sich ihr Magen. Neugierig sah sie sich im Saal um. Zumeist in Paaren trafen die Kursteilnehmer im Club ein und suchten sich Sitzplätze an den zum größten Teil schon belegten Tischchen.
Martin und Andreas trafen ein. Sofort spürte Conny, wie ihre Magennerven erneut anfingen zu flattern. Hastig kippte sie die restliche Cola hinunter. Vielleicht half es ja.
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