Schnell vergaß ich die merkwürdige Begegnung im Bus und lief zum Meditationszentrum hinauf, welches oberhalb der Stadt lag, durch die Straßen und Gassen, die vom Lärm der hupenden Autos und der Hindi-Pop-Musik aus vielen Lautsprechern eingenommen war. Eine große Pagode mit einer hoch aufragenden goldenen Spitze überragte das buddhistische Zentrum, in dem zum damaligen Zeitpunkt für mehrere hundert Menschen ein Meditationskurs abgehalten werden konnte. Nach der Registrierung wurde ich freundlich aufgefordert meine Kleidung zu wechseln, da ich sehr extrovertiert wie ein umherziehender Troubadour unterwegs war. Für die Dauer des Meditationskurses stellte man mir einen einfachen indischen Lungi 6und ein normales T-Shirt zur Verfügung. Ein Vipassanakurs, gelehrt in der Tradition von Sayagyi U Ba Khin und dessen Schüler S.N. Goenka, der diese vergessene Meditationspraxis von Burma zurück nach Indien gebracht hat, wird in vollkommenem Schweigen über 10 Tage abgehalten. Zur Meditation setzen sich die Praktizierenden in eine spezielle Halle, empfangen dort von einem Lehrer oder einer Lehrerin die Instruktionen und praktizieren damit von den frühesten Morgenstunden bis in den späten Abend. Alles geschieht im Sitzen und in Stille. Die ersten drei Tage der Meditation bestehen aus Anapana, der Beobachtung des Atems, wie er ein- und ausfließt. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit geschärft und der Geist zur Ruhe gebracht. Ab dem vierten Tag wird Vipassana gelehrt. Die Meditierenden beginnen Körper, Emotionen und Gedanken in einer bestimmten Art und Weise zu beobachten, die immer mehr verfeinert wird. Dabei wird Anicca 7offenkundig. Alles kommt und geht.
Ich fühlte mich sofort zu Hause, ich wollte nicht mehr weglaufen. Am besten gefiel mir das Schweigen und die Befreiung, für ein paar Tage nicht mehr für mein Essverhalten verantwortlich zu sein. Die Speisen wurden morgens und abends ausgeteilt, am Nachmittag gab es nur Obst, das war alles. Die Meditationssitzungen begannen in den frühen Morgenstunden, wurden nur durch kleine Pausen und die Essenszeiten unterbrochen und dauerten bis in den späten Abend, wo die neue Unterweisungen für den nächsten Tag gegeben wurden.
Ich hielt mich genau an die Disziplin und die Regeln und verschärfte sie sogar, indem ich meine Meditationszeiten noch ausdehnte. Ich wollte mit meinem Willen die körperlichen Grenzen von Schmerz und psychischer Verzweiflung durchbrechen.
Am vierten Tag brach mein bisheriges Selbstbild zusammen, ich gab meine sinnlose Selbstkasteiung auf. Ich erkannte meine tiefe Verachtung für das menschliche Leben, meinen Trieb zur Selbstzerstörung und meinen versteckten Zynismus. Es war eine grundlegende und erschütternde Läuterung, wie wenn Masken und Schichten vom Körper abfielen. Ich befürchtete alle im Zentrum könnten nun sehen, dass ich bisher nur die Maske der Freundlichkeit getragen hatte, aber darunter die grundsätzliche Verachtung für alle äußerlichen und materiellen Dinge schlummerte. Aber natürlich ging es den über hundert Kollegen und Kolleginnen im Zentrum nicht anders und ich musste über meine neuerlichen Probleme lachen. Keine Visionen oder spirituellen Zustände tauchten mehr auf. Meine Fressanfälle hörten schlagartig auf, aber ich spürte die Ängste und Freuden der Welt noch intensiver als früher. Als ein anderer Mensch verließ ich nach dem Kurs diesen wundervollen Ort mit dem Namen Dhamma Giri, den Hauptsitz der Vipassana-Akademie. Es fiel mir sehr schwer zu gehen und ich hatte keine Vorstellung, wie ich nun im Leben zurechtkommen sollte. Ein merkwürdiges Flimmern umgab meinen Körper und selbst einen anderen Mensch nur anzublicken machte mir große Schwierigkeiten.
Ich saß auf einer einfachen Holzbank am Busbahnhof von Igatpuri, überlegte wie es jetzt weitergehen sollte und beschloss kurzerhand nach Rajashtan in die Wüste zu fahren. Dort gab es ebenfalls ein Vipassanazentrum in der Stadt Jaipur, welches ich später aufsuchen wollte. Ich hatte mir andere Kleider besorgt und sah nun wie ein westlicher Sadhu aus. Meine alten Kleider verschenkte ich.
Je länger die Fahrt in die Wüste dauerte, umso unsicherer und aufgewühlter wurde ich. Was war geschehen? Was hatte das alles zu bedeuten? Was machte es für einen Sinn lange Meditationen einzuhalten? Klar, es ging mir viel besser, aber meine Angst vor dem Menschsein-An-Sich hatte noch mehr zugenommen. Die Meditation hatte Kräfte freigesetzt, die ich nicht mehr steuern konnte. Ich spürte, wie das eigenartige Flimmern in meinem ganzen Körper zunahm, während der Bus immer tiefer in den Wüstenstaat Rajasthan hineinfuhr. Wie üblich wählte ich meine Ziele intuitiv. Oftmals nur aus einer Laune heraus, weil mir der Name eines Ortes besonders gefiel. Zwei Tagesreisen von Jaisalmer entfernt, der fulminanten Wüstenfestung in Rajasthan, machte ich wieder Halt in einer kleinen Stadt und flüchtete schnell in ein einfaches Hotel für Pilger. Mein eigener Körper schien mir von Minute zu Minute unerträglicher. Langsam bahnte sich die nächste Krise an. Ich lag auf dem Bett des Hotels im abgedunkelten Zimmer und begann wieder zu schreiben. Alles, was in meinen Gedanken auftauchte, bannte ich aufs Papier, um zu verstehen was vor sich ging. Ich legte mich auf den Boden, schrieb weiter, die Schrift wurde immer unleserlicher, am Ende schossen nur noch wilde Striche über die Papierseite. Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper und kratzte nur noch auf dem Papier herum. Plötzlich fand ich mich, halb willentlich, halb gestoßen, im Kopfstand wieder und mein Verstand schien abzustürzen, kreisend ins Endlose zu fallen. Das musste der Eintritt in den Wahnsinn sein, dachte ich noch schnell, als sich der Raum um mich zu drehen begann und immer mehr bunte Kreise um mich herumwirbelten. Aber nicht der Wahnsinn suchte mich heim.
Plötzlich durchströmte Liebe das Herz, den entblößten Körper, die verlorenen Gedanken. Am Grunde meines Absturzes fand ich tatsächlich die Liebe. Der Ursprung von allem ist Liebe. Alles entstand daraus, alles lebte davon. Das Gefühl breitete sich in jeder Zelle aus. Liebe. So einfach war das.
Ich verließ unmittelbar das Zimmer und lief staunend und strahlend durch die Stadt, deren Name ich bis heute nicht weiß. Setzte mich in einen leeren, vollständig in Hellblau gestrichen Chai-Shop, ausgeleuchtet mit hellen Neonröhren, und starrte hinaus auf die Straße, wo es seltsamerweise leicht zu regnen begann. Alles ist ursprünglich durchdrungen von Liebe. Alles. Das ist der einzige Sinn des Lebens. Liebe. Der Chai-Shop Besitzer strahlte mich mit großen Augen an, als wüsste er das längst und ich lächelte zurück.
Ich ging zurück in das Hotel, packte meine Sachen wieder zusammen und nahm am frühen Morgen den nächsten Bus. In Ajmer, meiner nächsten Station, stieg ich aus und spazierte durch die Stadt. Mittlerweile war es mir vertraut angestarrt zu werden, aber diesmal geschah etwas sehr Seltsames. Ich hatte mich gerade an einen Tisch eines Chai-Shops gesetzt, der sich in der Mitte eines sehr großen Platzes befand, als immer mehr Menschen sich offenkundig um meinen Tisch drängten. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ihre Blicke mir galten und ich schaute verwirrt auf. Eine riesige Menschenmenge hatte sich um meinen Tisch versammelt. Ein stattlicher älterer Mann, stolz und mit stechenden Augen, dem typischen Schnauzbart der Rajasthanis tauchte neben mir auf und bat mich energisch mitzukommen. Dies sei nicht der richtige Platz für mich. Ich sollte solche Orte meiden. Ich sagte ihm, dass ich nichts kaufen wollte und auch nichts „unbedingt“ sehen müsste und lieber hier bleiben wollte. Zu guter Letzt überzeugte er mich jedoch und führte mich durch die neugierige Menge in sein Geschäft, das in einer engen Gasse lag. Es war bis zum Rande vollgestellt mit Antiquitäten und Schmuck aus Rajasthan. Tee wurde aufgetragen und wir saßen mehrere Stunden zusammen und er führte mir seine Schätze vor. Beim Abschied riet er mir noch mal, Plätze mit vielen Menschen zu meiden, und brachte seine zwei jungen Söhne zu mir, damit ich mich von ihnen verabschieden konnte. Auch die weitere Fahrt war geprägt von weiteren Merkwürdigkeiten und wildfremden Menschen, die mich ungefragt und freundlich einluden. Ich war heilfroh, als ich mich wieder in das Meditationszentrum in Jaipur zurückziehen konnte.
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