Ilja Iljitsch träumte noch von dem großen dunklen Salon im Elternhause mit alten Lehnstühlen aus Erlenholz, die immer mit Überzügen bedeckt waren, mit einem ungeheuren, plumpen und harten Sofa, das mit verblaßtem, fleckigem, blauem Berkan gepolstert war, und mit einem großen Lederfauteuil.
Der lange Winterabend beginnt. Die Mutter sitzt mit eingezogenen Füßen auf dem Sofa und strickt träge einen Kinderstrumpf, indem sie gähnt und sich ab und zu mit der Stricknadel den Kopf kratzt. Neben ihr sitzen Nastassja Iwanowna und Pjelageja Ignatjewna, stecken ihre Nasen in die Arbeit und nähen fleißig etwas zu den Feiertagen für Iljuscha oder für seinen Vater oder für sich selbst. Der Vater geht mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab und ist dadurch sehr befriedigt, oder er setzt sich in einen Lehnstuhl und beginnt, nachdem er eine Weile gesessen hat, wieder herumzugehen, aufmerksam dem Widerhall seiner Schritte lauschend. Dann schnupft er Tabak, schneuzt sich und schnupft wieder. Im Zimmer brennt dunkel eine einzige Unschlittkerze, und auch das wird nur an Winter- und Herbstabenden zugelassen. An den Sommerabenden bestrebten sich alle, ohne Kerzen, bei Tageslicht, schlafen zu gehen und aufzustehen. Das wurde teils aus Gewohnheit, teils aus Sparsamkeitsrücksichten getan. Die Oblomower geizten sehr mit jedem Gegenstand, der nicht im Hause erzeugt, sondern durch Kauf erworben wurde. Sie würden sehr gastfreundlich einen prachtvollen Truthahn oder ein Dutzend junger Hühner zur Ankunft eines Gastes abstechen, würden aber keine überflüssige Rosine in die Speisen legen und erblassen, wenn derselbe Gast sich eigenmächtig das Glas mit Wein vollschenkte. Übrigens kam dort ein solches Vergehen fast gar nicht vor; das tat höchstens irgend ein Waghals, ein in der öffentlichen Meinung verlorener Mensch; ein solcher Gast wurde gar nicht in den Hof hereingelassen. Nein, dort herrschten andere Sitten. Der Gast rührte dort nichts an, bevor er dreimal genötigt worden war. Er wußte sehr wohl, daß das einmalige Nötigen eher die Bitte einschloß, vom angebotenen Gericht oder Wein abzustehen, als sie zu kosten. Man zündete auch nicht für einen jeden zwei Kerzen an. Die Kerzen wurden in der Stadt für bares Geld gekauft und wurden wie alle gekauften Sachen von der Hausfrau selbst hinter Schloß und Riegel aufbewahrt. Die Stummeln wurden sorgfältig gezählt und aufgehoben. Überhaupt liebte man es dort nicht, Geld auszugeben, und so notwendig man einen Gegenstand auch brauchte, gab man dafür nur mit großem Herzweh und nur dann Geld aus, wenn die Ausgabe unbedeutend war. Das Bezahlen eines großen Geldbetrages wurde von Stöhnen, Weinen und Schimpfen begleitet. Die Oblomower willigten eher ein, Unbequemlichkeiten aller Art zu ertragen, und gewöhnten sich sogar, diese nicht mehr als solche anzusehen, als Geld auszugeben. Darum ist das Sofa im Salon längst fleckig, darum heißt auch Ilja Iwanowitschs Fauteuil nur Ledersessel, in Wirklichkeit besteht es halb aus Bast und halb aus Stricken; vom Leder ist nur auf der Lehne ein Fleck geblieben, und das übrige ist schon vor fünf Jahren in Stücke zerfallen und hat sich abgeschält; darum ist vielleicht das Haustor noch immer schief und wackelt die Stiege. Wenn man aber für etwas, es mochte noch so notwendig sein, auf einmal zwei-, drei-, fünfhundert Rubel zahlen sollte, erschien ihnen das wie ein Selbstmord. Als der alte Oblomow hörte, daß einer der jungen Gutsbesitzer der Umgegend nach Moskau gereist war und dort für ein Dutzend Hemden dreihundert Rubel, für Stiefel fünfundzwanzig Rubel und für eine Weste zur Hochzeit vierzig Rubel gezahlt hatte, schlug er ein Kreuz und sagte schnell, man müsse einen solchen Kerl ins Gefängnis stecken. Sie waren überhaupt für die Theorien der Sozialwissenschaft von der Notwendigkeit einer raschen und lebhaften Zirkulation des Kapitals, von der verstärkten Produktivität und dem Austausch der Produkte taub. Sie glaubten in ihrer Einfalt, die einzige Verwendung des Kapitals wäre, es im Koffer liegen zu lassen, was sie denn auch taten.
Auf den Lehnstühlen des Salons sitzen und schnaufen in verschiedenen Stellungen die Bewohner oder die gewohnten Gäste des Hauses. Unter den Anwesenden herrscht zum größten Teil tiefes Schweigen. Man sieht einander täglich, die gegenseitigen geistigen Schätze sind erschöpft und erforscht, und von außen erhält man nur wenig Neues. Es ist still; man hört nur die Schritte der schweren, zu Hause angefertigten Stiefel Ilja Iwanowitschs, außerdem tickt das Pendel der Wanduhr dumpf im Gehäuse, und der von Zeit zu Zeit von Pjelageja Ignatjewna oder von Nastassja Iwanowna mit der Hand oder mit den Zähnen abgerissene Faden stört die tiefe Stille. So vergeht manchmal eine halbe Stunde, die durch nichts anderes als durch das laute Gähnen von irgend jemand unterbrochen wird, der dann den Mund bekreuzigt und sagt: »Der Herr erbarme sich!« Nach ihm gähnt sein Nachbar, dann öffnet der nächste langsam, wie auf ein Kommando, den Mund und so weiter; das ansteckende Spiel der Luft in der Lunge macht die ganze Runde, wobei manchem die Tränen kommen. Oder Ilja Iwanowitsch tritt ans Fenster, blickt hinaus und sagt mit einiger Verwunderung: »Es ist erst fünf Uhr, und draußen ist es schon so dunkel!«
»Ja«, antwortet irgend jemand, »um diese Zeit ist es immer dunkel; jetzt beginnen die langen Abende.«
Und im Frühling wundert und freut man sich, daß lange Tage beginnen. Wenn man sie gefragt hätte, wozu sie diese langen Tage brauchen, würden sie es selber nicht gewußt haben.
Und dann schweigen sie wieder. Dann beginnt irgendwer die Kerze zu putzen und löscht sie plötzlich aus – alles kommt in Bewegung: »Das bedeutet einen unverhofften Gast!« sagt sicher jemand. Manchmal wird dieser Vorfall zum Ausgangspunkt eines Gespräches.
»Was könnte das für ein Gast sein?« sagte die Hausfrau, »vielleicht gar Nastassja Fadjewna? Ach, das wäre schön! Aber nein: sie wird vor dem Feiertag nicht kommen. Das wäre eine Freude! Wie wir uns da umarmen und zusammen weinen würden. Wir würden die Früh- und die Mittagsmesse zusammen halten ... Ich kann ihr aber nicht nachkommen! Obwohl ich jünger bin, kann ich nicht so lange stehen!«
»Wann ist sie denn von uns abgereist?« fragte Ilja Iwanowitsch, »mir scheint, nach dem Eliastag.«
»Was du sagst, Ilja Iwanowitsch! Du verwechselst immer alles. Sie hat nicht einmal den Sjemik2 abgewartet!« verbesserte die Frau.
»Mir scheint, sie war hier zu den Petrifasten«, entgegnete Ilja Iwanowitsch.
»Du machst es immer so!« sagte die Frau vorwurfsvoll, »du streitest und stellst dich dabei ganz bloß ...«
»Warum soll sie denn nicht zu den Petrifasten hiergewesen sein? Mat hat damals noch immer Pirogen mit Pilzen gebacken, sie liebt das ...«
»Das war ja Marja Onissimowna. Die liebt Pirogen mit Pilzen – wieso weißt du das nicht mehr? Und auch Marja Onissimowna war nicht bis zum Eliastag, sondern bis zum heiligen Prochor und Nikonor bei uns auf Besuch.«
Sie berechneten die Zeit nach den Feiertagen, den Jahreszeiten, nach den verschiedenen Ereignissen im Hause und in der Familie, ohne jemals auf den Monat oder das Datum hinzuweisen. Das geschah teilweise auch deshalb, weil außer Oblomow selbst alle anderen sowohl die Benennung der Monate als auch die Reihenfolge des Datums verwechselten.
Der besiegte Ilja Iwanowitsch schweigt, und die ganze Gesellschaft beginnt wieder vor sich hinzudämmern. Iljuscha, der sich hinter den Rücken der Mutter verkrochen hat, döselt auch vor sich hin oder schläft manchmal ganz ein.
»Ja«, sagt dann jemand von den Gästen tief seufzend, »Marja Onissimownas Mann, der verstorbene Wassilij Fomitsch, war, Gott habe ihn selig, so gesund und ist doch gestorben! Er hat nicht einmal sechzig Jahre gelebt; so einer hätte hundert Jahre leben sollen!«
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