„Schon gut. Es ist… interessant.“ Ich zögerte. „Aber du hast Recht, es ist nicht meine Meinung.“
Er zuckte mit den Schultern. Es lag schon wieder ein Lächeln auf seinen Lippen. „Und das ist vollkommen in Ordnung so. Ich bin dir immer noch sehr dankbar, dass du mir hilfst und deine Zeit dafür opferst. Und ich bilde mir ein, dass ich manchen Menschen sehr gut damit helfen kann, wenn ich ihnen einfach nur etwas zuhöre und ab und an komische Fragen stelle.“ Er blinzelte mir zu.
„Ist schon okay. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Jeder hat seine eigene Meinung und das respektiere ich auch. Aber vergiss nicht, dass deine Mutter mich dafür bezahlt, dass ich hier bin. Und eigentlich auch dafür, dass ich dir ein bisschen was beibringe.“
„Und das tut sie hoffentlich gut“, warf Benny lachend ein.
„Klar. Ich kann mich nicht beklagen. Also gut, wollen wir anfangen? Ist auch gar nicht so schlimm wie Mathe.“
„Na hoffentlich.“ Lachend rückte Benny wieder zu mir heran. Gemeinsam machten wir uns an die Arbeit und die kurze Anspannung, die zwischen uns herrschte, verflog schnell wieder.
Und sie kam auch in der ganzen Zeit, in der ich bei Benny war, nicht wieder. Erst, als ich knapp zwei Stunden später wieder auf dem Heimweg war, holten mich meine Gedanken wieder ein. Die Fragen, die er mir gestellt hatte, schwirrten in meinem Kopf herum und doch hatte ich keine Antwort darauf.
Was machte mich besser als Amelie?
Gab es überhaupt etwas, das mich besser machen konnte als sie?
Und wie kam es, dass ich schon wieder so viel Zeit bei dem Jungen verbracht hatte? Die Zeit war wieder einfach so verflogen und es hatte mir sogar Spaß gemacht, mit ihm über und auf Englisch zu diskutieren. Was lief nur falsch bei mir?
Irgendwann hatte ich es nicht mehr ausgehalten.
Ich wollte weg.
Ich wollte rennen.
Ich wollte schreien.
Ich wollte schneller rennen.
Ich wollte nicht mehr hier sein.
Ich wollte ausbrechen aus diesem Albtraum.
Ich wollte meine Wut an irgendjemandem auslassen.
An demjenigen, der dafür verantwortlich war, dass Benny jetzt operiert wurde und um sein Leben kämpfte. Wie konnte er ihn mir nur wegnehmen? Wie konnte überhaupt nur irgendjemand so egoistisch sein und ihn von uns nehmen? Es war nicht fair. Warum musste es ausgerechnet ihn treffen? Hätte es nicht irgendjemand anderes sein können?. Hauptsache nicht Benny.
Meine Gedanken hatten mich in den letzten Stunden eingeholt. Und jetzt hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte wieder zurück in den Zustand, in dem ich vorher gefangen war. In Watte gepackt und abgeschottet von allem und jedem, ohne irgendetwas zu fühlen. Es war so viel angenehmer gewesen als all das, was jetzt in mir vorging. Hatte ich mir zuvor noch gewünscht, weinen zu können, so wünschte ich mir jetzt, wieder nichts zu fühlen.
Ich wollte nicht weinen.
Ich wollte das alles nicht.
Ich wollte nicht länger fühlen.
Ich wollte nur noch weg.
Ich wollte nicht länger hier sein.
Jetzt war ich wieder auf dem Weg zurück zu ihnen. Marianna, Markus und Julia hatten den Wartebereich nicht verlassen. Im Licht der aufgehenden Sonne war ich zu der Bäckerei nebenan gegangen. Vielleicht war es die frische Luft gewesen, die mich aufgeweckt hatte, mich zurück in meinen Körper geholt hatte oder die Bewegung, durch die ich mich wieder halbwegs lebendig fühlte.
In meinen zitternden Händen hielt ich zwei Becher mit Kaffee. Ich wusste, wie sehr Marianna frischen Cappuccino liebte. Jetzt schafften wir beide es nicht einmal, uns anzulächeln, als ich ihr den Becher reichte. Immerhin schaute sie kurz auf, bevor sie an dem Getränk nippte.
Ich nahm ebenfalls einen Schluck aus meinem Becher. Mit einem Sitz Abstand setzte ich mich neben Julia. Der heiße Kaffee verbrannte meine Zunge. Ich zuckte zusammen. Und dann war ich dankbar dafür. Es lenkte mich ab von den anderen Schmerzen, die ich hatte.
Das Stechen in meinem Herzen. Die Enge in meiner Brust. Das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Alles um mich herum raubte mir den Atem. Die Wände kamen immer näher. Sie lachten uns geradezu aus, während sie uns zerquetschten. Nur mein Herz schlug unbeirrt weiter. Als wolle es mir nur noch deutlicher machen, dass ich am Leben war.
Ich wollte es mir herausreißen, darauf herumtrampeln und dann gehen. Alles einfach hinter mir lassen. Einfach vergessen, was passiert war und was noch passieren würde.
Ich wollte nicht mehr fühlen. Es war viel zu grausam. Ich würde es nicht aushalten, alles wieder von vorne durchzumachen. Wie sollte ich jemals wieder zurückfinden?
„Mama!“ Arianes Ruf ließ uns alle zusammenzucken. Mariannas Becher fiel auf den Boden. Der Kaffee verteilte sich auf dem ganzen Boden.
„Ariane.“ Mariannas Stimme war kraftlos und ihre Bewegungen träge und müde, als sie ihre Tochter in die Arme schloss.
Ich hatte nicht mehr an die kleine Schwester gedacht. Und damit war ich nicht die Einzige.
„Du solltest nicht hier sein.“ Arianes blonde Locken dämpften Mariannas Stimme.
„Natürlich sollte ich hier sein. Er ist mein Bruder. Und ich lasse meinen Bruder nicht im Stich. Das habe ich ihm versprochen und meine Versprechen werde ich halten. Ich lasse ihn nicht allein. Wir sind eine Familie. Wir halten zueinander.“ Sie weinte ebenfalls. Stumm liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie war die Jüngste. Und jetzt gerade schien sie die Stärkste zu sein.
„Woher weißt du davon?“
„Von Julia. Sie hat es mir direkt geschrieben.“ Mutter und Tochter drehten sich zu ihr um.
Natürlich. Julia war die Gute. Wie sollte es auch anders sein?
„Wie bist du hergekommen?“
„Mit einem Taxi.“ Ariane straffte die Schultern ein wenig mehr. „Ich wusste nur, dass ich herkommen muss. Mama, wir gehören zusammen. Benny, du und ich. Wir sind eine Familie. Das hast du uns so oft gesagt. Und ich habe es nie vergessen. Wir müssen jetzt zusammenhalten.“
Schluchzend presste Marianna ihre Tochter wieder an sich.
Ich wandte den Blick ab. Es war mir unangenehm, diese Art der Familienzusammenführung mit anzusehen. Es hatte etwas Intimes, Privates. Ich gehörte nicht dazu. Aber ich hätte es, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf. Du hattest die Chance dazu, Jo, aber du hast sie nicht genutzt. Du bist weggelaufen, weil es einfacher war.
„Hast du überhaupt etwas gefrühstückt, Ariane? Sonst wirst du noch dünner.“ Liebevoll legte Marianna ihrer Tochter eine Hand an die Wange. „Du bist doch so schön.“
„Mir geht es gut, Mama.“ Sie drückte ihre Hand.
„Komm, wir gehen kurz rüber und holen uns etwas“, sagte Julia und stand auf.
„Danke, Julia. Danke, dass du ihr Bescheid gegeben hast. Danke für alles.“ Marianna griff nach Julias Händen und drückte sie fest. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Was würde ich nur ohne dich tun?“
„Das war doch selbstverständlich.“ Ohne große Worte schloss Marianna auch Julia in die Arme, als wäre sie ebenfalls ihr Kind.
„Ich danke dir trotzdem, Julia. Du bist so eine tolle, junge Frau.“ Wieder schluchzte sie und sank zurück in ihren Stuhl. Markus strich ihr wieder beruhigend über den Rücken und nickte leicht in Julias und Arianes Richtung. Ein stummes Versprechen.
„Ich komme mit euch mit“, sagte ich leise und folgte den beiden Mädchen, meinen eigenen Becher fest umklammert. Die Wärme, die der Becher ausstrahlte, wollte nicht bis zu meinen tauben und kalten Fingern gelangen.
Weder Julia noch Ariane erwiderten etwas. Stumm folgte ich ihnen, während sie sich an den Händen hielten und sich stützten. Ich war allein. Und das trieb mir wieder die Tränen in die Augen. Sie hatten immerhin sich gegenseitig. Ich hatte niemanden. Mein Jemand war im OP-Saal und kämpfte um sein Leben. Ich konnte nur hoffen, dass ich es nicht komplett vermasselt hatte. Wieder spürte ich das Brennen in meinen Augen. Aber bisher hatte ich es geschafft, nicht zu weinen und das wollte ich auch weiterhin nicht. Ich wollte nicht und ich würde auch nicht. Ich wollte wieder zurück in den Zustand kommen, in dem ich vorher war. Abgeschottet von allem. Ich hatte mich damit abgefunden, die Emotionslose zu sein. So war es einfacher. Das konnte ich gut.
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