Den Holzriegel an der Hintertür öffnend, trifft ihn der vertraute herbe Geruch. Rasch legt Vedder den Jagdsack ans Gatter, greift über zu blökenden Köpfen mit hellem Fell zwischen hängenden Ohren, und geht vorbei.
Am Spiegel bei der Stubentür nimmt er die Fellmütze ab. Speckig klebt sein Haar am Kopf. Au weh! Er geht drei Schritte weiter in die Knie, legt Zunder in den Kamin, macht Feuer mit Zweigwerk. Nach und nach entweicht den Fingern der Frost, aber nicht im Geringsten ihm der Schock über sein Spiegelbild.
Erwägend hockt er am von Asche bedeckten Sims. Ja, Ella hätte ihm einen kalten Guss verpasst, mit festen Griffen den Kopf eingeseift! Sie schleuderte eher selber hin und her, statt ein hartes Wort zur Schluderei zu sagen. Umwerfend witzig war sie, ihr Geifern hörte er trotzdem heraus. Sie war mit sich unaufrichtig; starb daran. Ihm verblieb ihre Art als grüner Lichtblick. Und nun weiß er auch, mit Ella gab es keine so enorme Anziehung wie zu Helena. Mächtig, ja, und näher als die Wassergeister vom See, denen bloß am Schabernack und weniger daran liegt, einem armen Schäfer beizuspringen. Sind die einmal böse geworden und stur, dann schlägt man am besten Haken, die sie abschütteln.
Sein Schlenker zu Seegeistern setzt einen Widerhall in seine Beine, so, als steckten sie im Schloonsee, vom Rand hinein gewatet, von Sommerlicht umflort. Und schon werden seine vom Schnee bedeckten Stiefel schwer wie Blei, und das erreicht seine Knie, saugend wie der See. Vedder glaubt beinahe, es steige noch höher, rüttle und trete er sich nicht los aus dem dunklen Morast. Unbeweglich kauert er am Sims, ihn treibt etwas, größer und stärker als er selber, unaufhaltsam in den Sog. Er weiß weder, wie er hinein geriet, noch, wie er herauskommt. An den Beinen lecken Sommerwellen. Er schüttelt benommen den Kopf - was es noch schlimmer macht. Ihm schwappt eine plötzliche Welle vor, eine Vision reißt ihn mit.
Helena sieht er in ihre Scheune kommen, in deren dämmrigem Licht er hockt. Vedder sucht den Sog abzuwehren. Aber drückend fesseln Netze ihn in knotigen Maschen, durch die er einen Blick zwingt. Das Tor steht weit offen. Im selben Moment spürt er ein Gemisch aus frohem Frieden und banger Zurückweisung. Handelte er falsch? Verließen ihn alle guten Geister? Ein winziges Wissen erreicht ihn, weich wie eine in die Netzmaschen gewundene Alge: Helena lief ein Kind in den Buchenhain, um sich zu verkriechen als mutter- und vaterloses Tier. Helenas Schemen im Sommerlicht eilt dem Kind nach. Aber Vedder fesselt das Netz an seinen Platz. Doch jetzt und sofort kann er den Umstand, ein Kind würde Helena bestürzen, abschütteln.
Ah! Die Seegeister schicken wie eh und je an diesem Ort irritierende Gedanken, dem leichten Opfer ihrer Ränke! Oder, war es gut so? Mischt sich sogar Ella ein, sein grüner Lichtblick? Schon lacht ihr Witz in Vedders Gehör, erleichtert von Zauberhand seine Beine. Einher damit reißt ein unsagbarer Druck in den Augen ihm die Fäuste hoch. Der Schmerz vergeht halbwegs. Er weiß, Helena lebt ohne ein Kind. Die unsinnige Flut entspringe nur dem Wunsch nach Kinderhänden, denen er lehre wie die Funken im Leben fliegen. Voll Wärme brennen die, hinausgekehrt gehört nachher nur ein wenig von der Asche.
Höchst betroffen von dem, was ihn durch treibt, schichtet Vedder kreuzweise Scheite über die Glut. Bald knistert das Feuer. Er tunkt die Kelle in den Milchkübel, wärmt damit den Rest Grütze im Topf, kratzt mit dem Holzlöffel, fährt mit der Zunge nach.
Schließlich entlässt er am Gatter das Böckchen und öffnet den Verschlag der Herde. Die schubst vorbei, erregt mit den Schwänzen wackelnd, erreicht sie das schneebedeckte Gehege. Die Keckeren springen den Bock seitwärts an, hüpfen munter. Ein paar ihrer Bäuche sind trächtig. Vedder karrt den Dung zur Miste, sein Blick streift auf die hüfthohe Räucherstelle aus seegeschliffenen Kieseln. Sein Mund muss warten. Vorerst, einige Schritte ferner, schlägt Vedder in das Eis im Regenfass, schöpft mit den Händen Wasser und benetzt sein Haar. Kernseife reibt er an seine Kopfhaut, und hält beim nächsten Guss die Luft an.
Es tropft vom Kinn, als sein Haar am Kamin trocknet, in der inzwischen wärmeren Stube. Aus den Ecken steigt Modergeruch und muffelt krass. Zu nah am See liegt seine Kate, versinkt mit den Jahren im Grund. Vedder öffnet ein Fenster dem rauen Sturm, der die See aufschäumt, doch keineswegs seinen Entschluss mindert, die verwirrend klugen Ahnungen aus dem Gemüt zu treten, im Ziel eine Kiepe voller Fische vom Ostseefang.
Schon vor den Salzhütten blickt er voraus, und erkennt Helena mit einem Henkelkorb zu den Frauen gehen, die sich dort über Tröge bücken. Ein Blitz voll Magie zuckt durch Vedder, schlägt entzückend ein unter seiner Fellkappe, weit über die Ohren herab gezogen, und dann auch ein im Bauch. Lautlos japst er, tritt steifbeinig zum nächsten Fischer, vor dem er den Korb vom Rücken streift, und spröde den altgedienten Mann begrüßt: „Dag och. Allens en Maaten?“
„Sturmgebrus blev, dat kannst me glööven. Sust de Wind in Februar, reken up een godes Jahr.“ Bei seinen kundigen Worten füllt der alte Fischer den Korb mit silbrigen Heringen, patscht ein Dorsch obenauf, und seine Freude am reichhaltigen Fang.
„De Well’ hät allens geven. Hölpt för de Appetit. Helge is nu wech. De denkt, quasselt de Ohren up.“
Vedder hievt den randvollen Korb über seine Schulter, nickt ihm zu, und stiefelt schwer tragend im böigen Wind fort. Helena blinzelt er nach. Unter dem Sturm, der anrückt, würde er heute nicht mehr nach ihr sehen. Doch des Fischers Blick folgt Vedders, bläht seine Wangen. Bitter schluckt er an dem, was er spürt und denkt über das Unglück der jungen Frau. Er krümmt den Rücken, wendet sich ab.
Über Helena saust der steife Sturm hinweg, treibt sie voran am Pfad zu den Sanddornbüschen. Davor stellt sie den Fischkorb in den Schnee und bläst in ihre Hände, macht sie geschmeidig, denn die verhärtete nicht nur der Wind. Die sie musternden, sie mit Stolz verwünschenden Fischweiber.
„Ach, was soll es!“, ruft sie ins Sanddorngebüsch, „diese in dreister Unwissenheit Befangenen gehen mich nichts an!“
Achtsam für sich selbst, zupft sie schrumpelige Früchte von dornigen Zweigen. Danach hetzt sie mit sicheren Schritten ihren eigenen Fußstapfen folgend am Wiesenweg heim.
Später rieselt grober Zucker auf die Beeren. Goldener Sirup soll es werden, das Morgenmus süßen. Den Pott stellt Helena zum Köcheln neben die Glut. Sie rührt Graupen in ihre Fischsuppe im Topf am Haken, legt einen Kiefernzweig ins Feuer, setzt sich auf den Schemel davor und erschnuppert den aufsteigenden Duft. Untätig schiebt sie die Hände ins vorne überkreuz gebundene Schultertuch, nun fertig geworden aus der im Herbst fein gesponnenen Schafwolle. Sie betrachtet die Strickmaschen, das Licht und die winzigen Schatten darin. Unter dem Stricken saß am Tisch bei ihr ihre Einsamkeit. Die Hände regten sich, die Finger erschufen mit jeder Masche des wärmenden Stücks die Vollendung einer neuen Form. Und dabei prickelte ihre Stirn ihr zu, all die Maschen beseele ein Geheimnis, noch genau zu erfassen, es belichten im Traum. Nur soeben jetzt erhebt der harzige Duft des Kieferastes ihre Sinne zu Joos’ Vorvätern, die, waren keine Netze zu knoten, an Feuern saßen und strickten, vom Wetter gegerbte Kerle. Schließlich erfasst Helena nur noch, nie mehr Socken stopfen zu müssen, ihr hinterließ Joos löchrige Lumpen in ihrer Leere.
Mehr verdrängt die brodelnde Suppe. Helena deckt den Tisch am Fenster, entzündet den Docht im Petroleum. Im gelben Licht sitzend, zerdrückt sie Graupenkörnchen und Fisch auf der Zunge. Warm wird ihr. Noch eine Weile später, kocht sie einen Teil der gemolkenen Milch auf, setzt damit einen nächsten Käse an, rührt Sauermilch in den anderen Teil, lässt ihn über Nacht stehen.
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