Irgendwann fängt man dann an, am eigenen Verstand zu zweifeln und fragt sich, was das Ganze denn soll. In der Zwischenzeit, das heisst am Folgetag, wurde Philippe 60 Jahre alt. Nebst dem Besuch der Familie gab es an diesem Tag ein weiteres Highlight. Ein junger Arzt, dunkler Hautfarbe, kam zu Philippe und sagte ihm: «Für mich sind Sie gesund». – Punkt und fertig.
Ok. – Philippe nahm dies gerne so zur Kenntnis, nur sahen andere Ärzte dies leider nicht ebenso, mit der Konsequenz, dass weitere Untersuchungen anstanden. Letztlich wurde mittels Katheter das Herz untersucht. Und weil der Eingang in die rechte Herzkammer nicht offenstand und auch die dicksten Kanülen nicht halfen, dies zu ändern, standen der behandelnde Assistenzarzt, der Oberarzt und letztlich auch der Chefarzt vor einem Problem. Sowas hatten sie offensichtlich noch nie oder schon lange nicht mehr erlebt. – Eine Herzanomalie! Geburtsfehler, da kann man nichts machen.
Mit dieser Diagnose wurde Philippe nach Hause entlassen, und er selber war glücklich darüber, wieder daheim sein zu dürfen. Was sein Unwohlsein ausgelöst hatte, weiss er zwar noch heute nicht, ist für ihn aber weiter auch nicht schlimm. Hauptsache, er konnte das Spital verlassen und dies auf eigenen Beinen.
«Und du, lieber Bernard, wie ist es dir ergangen seit deiner Pensionierung?», erkundigte sich Philippe. «Sehr gut!», kam die spontane und ehrlich klingende Antwort von Bernard. «Jetzt habe ich endlich Zeit, mich meinen Hobbies zu widmen. Du weisst, dass ich liebend gern male und mich auch stundenlang und mit Freude mit unterschiedlichster Lektüre auseinandersetze. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob es sich hierbei um ein hochliterarisches Werk handelt, oder eben um einen Kriminalroman von Georges Simenon. Beides ist für mich Entspannung pur, und ich verstehe es eben auch als Abwechslung zur ebenfalls geliebten Gartenarbeit. Daneben ist es für mich natürlich immer wieder wunderschön, mich mit Isabelle austauschen zu können oder eben mit lieben Freunden wie euch zusammen sein zu dürfen.»
Den Neujahrstag verbrachten alle vier mit einem gemütlichen Schwatz, begleitet von leichter Musik aus dem Radio und einem Tariquet Classic 2013 aus der Gascogne. Philippe wählte diesen Wein ebenfalls in Anspielung an die Zeit von Isabelle und Bernard in der Aquitaine. Philippe schmeckte der Wein zwar nicht sonderlich, er bevorzugte den Schweizer Weisswein und dort vorweg den Saint-Saphorin aus Chexbres, einem kleinen, lieblichen Winzerdorf am Genfersee; aber eben, Geschmäcker sind verschieden und so soll es auch sein. Vielleicht wollten sie später noch eine solche Flasche öffnen und degustieren. Man musste Bernard ja schliesslich auf den Geschmack bringen.
Plötzlich wurde das Thema auf den in Tirana verhafteten Polizeichef gelenkt, und Bernard wusste folgendes zu berichten: Gérard, der ehemalige Journalist beim Var-Matin habe ihm erzählt, dass seinen Informationen zufolge, der Polizeichef mit Drogen im grossen Stil handeln soll. Er sitze nun nach offiziellen Quellen in einem Polizeigefängnis etwas ausserhalb von Tirana und dürfe keinen Besuch empfangen. Das Ganze sei ‘top-secret’. Diese Information habe er von einem befreundeten Journalisten aus Ankara erhalten und dieser wiederum habe die Information von einem Freund aus Tirana.
Nun aber werde es richtig interessant. Von einer anderen Quelle habe er allerdings erfahren, dass das Ganze gar und gar nicht stimme. Der Polizeichef werde nicht zurückbehalten, und es werde ihm auch nicht der Kontakt zur Aussenwelt verwehrt. Er halte sich auch nicht in einem Gefängnis, sondern in der Sommerresidenz des neugewählten Ministers auf, wo er jeglichen erdenklichen Luxus sich leisten könne. Die Residenz befinde sich direkt am Meer und verfüge über einen eigenen Hafen, wo regelmässig Schnellboote anlegten. Mit diesen Schiffen würden Fässer mit Olivenöl in einen Vorort nördlich von Brindisi verbracht. Vom Flughafen Brindisi, dem Aeroporto del Salento, würden die Fässer dann mittels Privatflieger nach Bern-Belp in der Schweiz und von dort weiter in ein dubioses Geschäft in der Stadt Bern gebracht. Speziell sei nicht nur der Weg, wer benütze schon den Privatflieger für den Transport für Olivenöl, sondern auch der Umstand, dass mit Olivenöl nun doch wieder nicht so viel Geld gemacht werden kann, damit sich das Ganze lohnen würde.
«Wow, das tönt wirklich interessant», und Philippe erzählte nun Bernard seine Geschichte, so wie sie ihm bislang präsentiert worden war. - Die beiden Frauen, Isabelle und Deborah, hörten gespannt zu.
Tatsächlich gab es einige Parallelen, aber auch Unterschiede in den Darstellungen. Auch wäre die Rolle des neugewählten Ministers völlig neu, würde sie denn den Tatsachen entsprechen. Ebenfalls wurde bislang nicht erwähnt, dass in den Eichenfässern vermutlich Heroin geschmuggelt werde. Auch von Menschenschmuggel oder gar Menschenhandel wusste die Quelle von Gérard nichts zu berichten. – Gut, er wurde auch nicht danach gefragt.
Und trotzdem war erstaunlich, selbstverständlich nur dann, wenn die Informationen auch tatsächlich stimmten, dass der oder die Informanten von Gérard mehr wussten als die involvierten Nachrichtendienste. Gut, vielleicht hatten diese oder Frau Vögtli ihm auch nicht alles erzählt. Auf jeden Fall galt es die Informationen in die weiteren Überlegungen miteinzubeziehen. Ein altes Sprichwort lautet ja bekanntlich: Wo Rauch ist, ist auch Feuer.
Nun wollten sich die Anwesenden aber doch lieber wieder der leichteren Kost bedienen, und Philippe schlug vor, das Abendessen vorzubereiten. Natürlich waren alle damit einverstanden. Philippe hatte vorgesehen, einen Fisch zu servieren. Er entschied sich beim Einkauf für Rotzungenfilets und zwar nicht nur, weil sie besonders gut schmecken, sondern auch noch einigermassen bezahlbar sind. Seezungenfilet hatte er zwar noch lieber, diese sprengten jedoch sein Rentengeld und somit gab es eben Rotzunge, immerhin Wildfang aus dem Atlantik. Dazu sollte es Reis und Salat geben. Philippe war bekannt für seine Salatsauce und die Gäste rühmten diese zumeist. Philippe war sowieso erstaunt, dass er in Frankreich noch nie eine wirklich gute «französische Salatsosse» gegessen hatte, obschon in der Schweiz dieser Begriff auch verwendet wird.
Seine Sauce besteht aus drei Teilen Sonnenblumenöl, einem Teil Weinessig, Aromat (!) und Pfeffer, Mayonnaise und Senf, gut proportioniert, und einen Schuss Halbrahm; als vegane Alternative kann auch Soja verwendet werden. Das Ganze wird dann mit einem kleinen Schwingbesen verrührt und mit frischen Zwiebeln, Radieschen und Tomaten und allenfalls mit frischen Kräutern wie beispielsweise Schnittlauch verfeinert. Letztlich kommt es aber darauf an, dass der Salat frisch ist und nicht in geschnittener und in Plastik abgepackter Form daherkommt. Bei Philippe sträubten sich jedes Mal die Nackenhaare, wenn er einen Plastiksack Fertigsalat mit elend langem Verbrauchsdatum öffnete. Der Geschmack war einfach nur widerlich.
Das Abendessen war köstlich und Philippe und Bernard gönnten sich nach dem Essen noch einen Digestif. Dieses Mal sollte es ein Marolo, Grappa di Barolo, 12-jährig sein. Bernsteinfarben leuchtend im Glas, mit einem leichten Duft nach Zwetschen und Zitrusfrüchten, geschmeidig und elegant, erfreute dieser Grappa die beiden. Deborah und Isabelle zogen abermals einen Tee vor, dieses Mal einen Bio-Früchtetee mit Zichorie und Lindenblüten, welcher unter dem Namen Lemon Sorbet von Special.T angeboten wird.
Leider neigte sich der Besuch von Bernard und Isabelle schon bald dem Ende zu. Morgen Vormittag wollten sie zurückfahren, da die Mutter von Isabelle, Fabienne Bertrand, ihren 80-igsten Geburtstag feiern werde. Es werde sicherlich ein schönes Fest, auch wenn ihr Mann Paul, der Vater von Isabelle, nicht mehr dabei sein werde. Paul sei vor gut einem Jahr verstorben, jedoch habe sich Fabienne einigermassen gefasst und sie freue sich nun auf das Fest, an welchem auch Désirée, die Schwester von Isabelle, und die beiden Töchter von Bernard und Isabelle, Michelle und Danielle, teilnehmen werden.
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