Melanie machte sich so klein wie möglich. In ihrer Schule wurden alle, die pinke Augen hatten, heruntergemacht. Und da das genau genommen nur Melanie betraf, war sie das Opfer.
Sie saß auf ihrem gewohnten Platz ganz hinten im Klassenzimmer und starrte die schwarze Tafel am anderen Ende des Raumes an. Die Wände des Klassenzimmers waren weiß gestrichen, die Tische reihenweise angeordnet und an der Wand hing außer dem Stundenplan kein einziges Bild, nicht mal Plakate der Schüler wurden aufgehängt. Alles in allem war es hier genauso unfreundlich gestaltet, wie die Stimmung war, und von Wohlfühlen war keine Rede. Gerade beschrieb eine Tussi vor Melanie ihrer Kollegin eine nicht vorhandene weitere Freundin. Ganz klar, um Melanie zu ärgern.
„Sie hatte blonde Haare und pinke ... äh ... ich meine natürlich blaue Augen.“ Ihre Freundin lachte dröhnend und unmädchenhaft über den grottenschlechten Witz.
„Weißt du, ich würde mich nicht blicken lassen!“, meinte sie.
Melanie, die ganz darauf konzentriert war, den beiden nicht an die Gurgel zu springen, weil sie sonst Ärger bekommen hätte, bemerkte nicht, wie die Freundin der beiden Miss-Wir-sind-so-lustig-Tussen mit einem Schwamm hinter sie getreten war. Als der erste Tropfen Seifenwasser auf ihre Haare fiel, fuhr sie erschrocken zusammen, sprang über ihre Stuhllehne und packte das Mädchen am Hals. Dieses schaute sie entsetzt an und ließ den Schwamm fallen, der ein paar Meter weiter links landete. Eine Sekunde später ließ Melanie sie erschrocken los und ging schwer atmend ein paar Schritte zurück. Sie hatte ganz reflexartig gehandelt, doch sie wäre auch zu mehr in der Lage gewesen. Es war ihr aber noch nie passiert, dass sie derart die Fassung verloren und ein Mädchen angegriffen hatte; wahrscheinlich reichte es ihr an ihrem letzten Schultag einfach. Aber sich zu entschuldigen, war eine schlechte Idee, deshalb kniff sie verächtlich ihre großen Augen zusammen und sah die drei Tussen an, die sie aus offenen Mündern anstarrten.
„Ich kannte mal jemanden, der hatte braune Augen.“ Sie sah das Mädchen, das vorhin über die blauen Augen erzählt hatte, nachdrücklich an. „Aber seltsamerweise wechselte das ziemlich schnell zu Blau, als er mich ins Wasser werfen wollte.“ Sie schnaubte. „Also lasst mich gefälligst in Ruhe!“ Sie setzte sich an ihren Platz, wohl wissend, dass ihr Spruch genauso schlecht war wie der der anderen. Natürlich hielt das niemanden davon ab, weiter über sie zu lästern.
Ein Junge vor ihr drehte sich um. „Ach ja, ist er über seine Füße gestolpert?“
Das ist ja fast schon humorvoll!
Sie antwortete nicht.
„Weshalb trägst du denn diese bescheuerten Kontaktlinsen?“
Melanie zwang sich, nicht auch noch ihm die Fresse zu polieren. „Das sind keine Kontaktlinsen“, sagte sie möglichst gelassen. Egal, welche Antwort sie gab, es war immer die falsche.
Der Junge hob die Brauen. „Ach ja, du bist ja eine Missgeburt.“ Lachend drehte er sich wieder nach vorne.
Doch nicht humorvoll.
Zum Glück kam in diesem Moment die Biologie- und Klassenlehrerin ins Zimmer, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, zu spät zu kommen. Sie blickte ihre Schüler an, die allesamt in einer Du-hast-mirgar-nichts-zu-sagen-Haltung in ihren Stühlen saßen. Melanie schaute sich rasch im Zimmer um und stellte verwundert fest, dass tatsächlich alle eine eigene Taktik entwickelt hatten, in der Schule nicht aufzufallen und desinteressiert auf den Stühlen zu fläzen. Wenigstens etwas lernt man in der Schule.
„Gerade hinsetzen!“, herrschte die Lehrerin ihre Schüler an.
Von allen Lehrern mochte Melanie diese am liebsten. Nicht, weil sie so wahnsinnig sympathisch war, sondern weil die meisten Schüler Angst vor ihr hatten. Dann ließen ihre Mitschüler sie wenigstens eine Weile lang in Ruhe.
„Heute ist euer letzter Tag. Letzte Woche habe ich eine Umfrage gemacht, was ihr heute gerne machen würdet. Da es gewisse Einschränkungen gibt, habe ich Folgendes entschieden.“ Sie schob sich die Brille höher auf die Nase. „Nachdem ihr mir die Hefte zurückgegeben habt, werden wir über ein aktuelles Thema sprechen.“
Die Klasse stieß entsetzte Laute aus und Melanie runzelte die Stirn. Momentan war nichts in den Nachrichten präsent, über das man groß reden konnte, und das Wetter war mit aktuell bestimmt nicht gemeint. Sie musste sich wohl überraschen lassen.
Doch die Lehrerin strich trotz der abwehrenden Reaktionen bloß ihre altmodische Bluse glatt und ging in der Klasse herum, um die Hefte einzusammeln.
Als Melanie ihres abgab, flüsterte jemand: „Bestimmt hast du den ganzen Abend damit verbracht zu schreiben, dass du gelernt hast, dass es keine pinken Augen gibt.“
Melanie warf ihr Haar über die Schulter und flüsterte zurück: „Es war um vier Uhr morgens.“
Der Junge blickte ein wenig verwirrt drein.
Melanie drehte sich wieder nach vorne, weil sie schon den Blick der Lehrerin auf sich spürte. Wie sie die Schule und diese Leute hasste. Konnten diese Idioten sie nicht einfach ignorieren? Das vier Uhr morgens war zwar in diesem Fall eine etwas lockere Wahrheit gewesen, aber an manchen Tagen traf das tatsächlich zu.
Die Lehrerin schrieb in großen Lettern den Begriff „Die dunkle Retterin“ an die Tafel. Lächelnd drehte sie sich zu den Schülern um, die ihr mit offenen Mündern entgegenblickten.
Das hatte sie mit „aktuell“ gemeint?
„Was kennt ihr noch für Begriffe für dieses Mädchen?“ Ihr Blick glitt durch die Brille über die Schüler und blieb schlussendlich an Melanie haften, obwohl diese sich große Mühe gab, ihrem Blick auszuweichen. „Melanie?“
Melanie sah erschrocken hoch. „Äh, das Mädchen in Schwarz“, antwortete sie zögernd und spielte nervös mit ihren Armbändern herum, die Gedanken bei der TierWoche und ihren Eltern.
„Genau!“, sagte die Lehrerin erfreut, als habe Melanie gerade im Kopf eine ellenlange Gleichung gelöst. Eifrig schrieb sie es an die Tafel und Melanie sah wieder aus dem Fenster. Tatsächlich gab es schlimmere Themen als dieses, aber sie wollte im Moment nur noch aus dieser Schule raus und nie wieder zurückkehren. Sie bekam noch mit, wie ein Junge sagte, manchmal würde sie das Tier der Nacht genannt werden. Darauf reagierte die Lehrerin ebenso beschwingt wie bei Melanie. Wahrscheinlich dachte auch sie schon die ganze Zeit an die Ferien und konnte sich die Laune nicht verderben lassen. Geschichten zufolge fuhr sie jeden Sommer ans Meer, was Melanie überhaupt nicht verstehen konnte – ihr persönlich gefielen keine Strandferien, genauso wenig wie ihren Eltern.
Als Melanie nach einer Weile wieder einen Blick auf die Tafel warf, realisierte sie, dass der Unterricht vorangeschritten war, auch wenn sie nichts davon mitbekommen hatte. An der Tafel standen nun mehrere Stichworte zum Verhalten des Mädchens in Schwarz und was für eine Person sie wohl war. Melanie presste genervt die Lippen aufeinander. Wieso war es denn so wichtig herauszufinden, wer dieses Mädchen war? Warum konnte die Menschheit kein Geheimnis geheim bleiben lassen? Ohne dass sie es richtig merkte, hatte sie die Hand gehoben.
„Ja, Melanie? Was möchtest du dazu sagen?“ Der Blick der Lehrerin durchbohrte sie.
Hören Sie auf, mit mir zu reden, als sei ich ein Kleinkind!
„Ich habe eine Frage“, stellte sie klar und schaute stur nach vorne. „Wieso wollen wir jetzt herausfinden, wer sie ist? Warum ist das so wichtig?“
Die Lehrerin schob verdutzt ihre Brille höher und einige aus der Klasse stöhnten übertrieben laut.
„Was die immer für Fragen stellt“, murmelte der Junge hinter Melanie. „Nun ja, immerhin ist sie ja ein großes Thema in der Zeitung“, antwortete Melanies Klassenlehrerin pikiert und ein wenig aus dem Konzept gebracht. „Das ist doch ein lockeres Thema für den letzten
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