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Nach dem Brief, den uns der Soldat mit dem Holzbein gebracht hatte, bekamen wir keine Post mehr von Vater. Jedes Mal, wenn Fedkas Vater mit seiner Tasche über die Straße ging, streckte meine kleine Schwester, die lange schon auf ihn gewartet hatte, den Kopf zum Fenster hinaus und rief mit ihrem dünnen Stimmchen: ‚Onkel Sergej, hast du was von Pappi für uns?” Seine Antwort war immer die gleiche: ‚Nein, Kindchen, heute nicht! Aber morgen bestimmt!” Doch am nächsten Tag hatte er wieder nichts für uns.
Eines Tages, es war schon im Monat September, saß Fedka bis zum Abend bei mir zu Hause. Wir machten gemeinsam unsere Schularbeiten. Wir waren gerade fertig geworden, und Fedka packte schon seine Bücher und Hefte zusammen und wollte nach Hause gehen. Da prasselte auf einmal ein mächtiger Platzregen herab. Ich sprang auf und wollte rasch das Fenster zum Garten schließen. Der Wind pfiff und wirbelte mit jedem Stoß ganze Haufen verwelkten Laubs vom Boden auf; einige dicke Regentropfen schlugen mir ins Gesicht. Nur mit Mühe konnte ich einen Fensterflügel zumachen. Als ich mich hinauslehnte, um auch den anderen heranzuziehen, flog plötzlich ein dicker Lehmbrocken auf das Fensterbrett. Ein ganz schöner Wind! dachte ich. Der kann ja Bäume ausreißen. Ich trat wieder ins Zimmer zu Fedka zurück. “Ein richtiger Sturm! Und da willst du jetzt nach Hause gehen? Es gießt nur so. Sieh mal den Klumpen Lehm hier, der ist gerade ans Fenster geflogen!” Fedka schaute ihn sich ungläubig an. “Den Brocken da soll der Wind reingeworfen haben? Du kohlst ja.” “Was denn sonst?” Ich ärgerte mich. “Ist schon so, wie ich gesagt habe. Ich wollte gerade das Fenster zumachen, da knallte es auf die Fensterbank.” Ich schaute mir den Lehmklumpen etwas genauer an… Sollte ihn doch jemand absichtlich geworfen haben? Doch das konnte ja nicht sein, und so fuhr ich fort: “Blödsinn! Da war doch niemand. Wer soll schon bei dem Wetter im Garten gewesen sein? Das war der Wind, klar!” Mutter saß im Zimmer nebenan und nähte. Mein Schwesterchen schlief schon. Fedka blieb noch eine halbe Stunde da. Schließlich klärte sich der Himmel auf, und durch die regennassen Scheiben schaute der Mond ins Zimmer. Der Wind hatte nachgelassen. “Ich geh jetzt”, sagte Fedka. “Ist gut, ich schließ nicht hinter dir ab, mach die Tür fest zu! Das Schloss schnappt dann von selbst ein.” Fedka zog seine Mütze in die Stirn, steckte die Bücher unter die Jacke, damit sie nicht nass würden, und ging. Ich hörte noch, wie die Tür laut hinter ihm zufiel. Ich zog die Schuhe aus und wollte schlafen gehen. Da sah ich auf dem Boden ein Heft liegen, das Fedka vergessen hatte. Es war sein Heft mit den Aufgaben, die wir gelöst hatten. So ein Dussel! Dachte ich. Morgen in der ersten Stunde haben wir Algebra… na, ich nehme es ihm mit. Ich zog mich aus und kroch unter die Decke, hatte mich aber noch nicht einmal umgedreht, als es im Flur leise und vorsichtig läutete.
“Wer kommt denn da noch?” fragte Mutter erstaunt. “Doch wohl kein Telegramm von Vater…? Nein, der Briefträger rüttelt immer so stark an der Klinke. Mach mal auf!” “Ich bin schon ausgezogen. Das ist bestimmt der Fedka, er hat sein Heft liegenlassen, und das hat er wohl unterwegs gemerkt.” “Ausgerechnet der!” Sie war ärgerlich. “Konnte er denn nicht morgen früh vorbeikommen? Wo ist denn sein Heft?” Sie nahm das Heft, zog die Pantoffeln über die nackten Füße und ging hinaus. Ihre Pantoffeln schlurften über die Treppenstufen, dann knackte das Türschloss. Im selben Augenblick hörte ich einen unterdrückten Schrei. Ich sprang aus dem Bett. Im ersten Augenblick glaubte ich, Einbrecher hätten meine Mutter überfallen, und griff schon nach dem Kerzenleuchter auf dem Tisch. Damit wollte ich das Fenster einschlagen und auf die Straße hinaus um Hilfe rufen. Aber da klang es von unten her wie ein Lachen, wie Küsse… ich hörte lebhaftes, leises Sprechen, dann ein Scharren von Füßen auf der Treppe. Die Tür flog auf – ich stand wie gebannt vor meinem Bett, nackt und den Leuchter in der Hand. Tränen noch in den Augen, stand Mutter in der Tür, glücklich und mit lachendem Gesicht, und neben ihr – unrasiert und schmutzig, nass bis auf die Haut – ein Soldat, der liebste von allen, mein Vater. Ein Satz, und schon hatten mich seine starken, harten Hände gepackt. Hinter der Wand rührte sich mein Schwesterchen im Schlaf. Die Geräusche machten sie unruhig. Schon wollte ich zu ihr hineinstürzen und sie wecken, als mich Vater festhielt und mir zuflüsterte: “Lass sein, Boris…weck sie nicht auf… und macht auch nicht solchen Krach!” Dann schaute er Mutter an: “Warjuscha, wenn die Kleine wach wird, sag ihr nicht, dass ich da bin. Lass sie jetzt schlafen. Kannst du sie für drei Tage irgendwohin bringen?” Mutter antwortete: “Wir können sie morgen in aller Frühe nach Iwanowskoje bringen. Sie will schon so lange zur Großmutter. Und der Himmel ist wieder klar, scheint es. Boris kann sie ja morgen früh mitnehmen. Aber jetzt brauchst du nicht so leise zu sein, Aljoscha, sie hat einen festen Schlaf. Oft kommen nachts Leute und holen mich ins Krankenhaus, sie ist daran gewöhnt.” Ich stand da mit offenem Mund und konnte das alles gar nicht fassen. Wieso? Unsere kleine Tanjuschka wollen sie in aller Herrgottsfrühe zur Großmutter bringen, bloß damit sie nicht merkt, dass Vater gekommen ist? Was soll das bedeuten…? Wozu das alles? “Borja!” sagte Mutter zu mir. “Du schläfst in meinem Zimmer, und morgen früh um sechs nimmst du Tanjuschka und bringst sie zur Großmutter… erzählst aber niemandem, dass der Vater gekommen ist.” Ich schaute meinen Vater an. Er schloss mich fest in seine Arme, er wollte etwas sagen, zog mich aber nur umso fester an sich und schwieg. Ich legte mich in Mutters Bett. Vater und Mutter blieben im Esszimmer und schlossen die Tür. Lange fand ich keinen Schlaf. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, versuchte bis fünfzig zu zählen, bis hundert – ich konnte nicht einschlafen. Mir war ganz wirr im Kopf. Dachte ich an das, was geschehen war, stieß ich auf lauter Widersprüche, es war alles so seltsam… An den Schläfen spürte ich einen leichten Druck, als wäre ich lange Karussell gefahren. Erst spät in der Nacht fiel ich in einen leichten Schlaf, wurde aber gleich wieder wach, als leise die Dielen knarrten. Vater war mit einer brennenden Kerze ins Zimmer getreten. Die Stiefel hatte er ausgezogen und nur noch Socken an den Füßen. Er trat an Tanjuschkas Bett und hielt das Licht tiefer. So stand er eine Weile und betrachtete sein kleines schlafendes Kind mit dem hellen Haar und den roten Wangen. Er beugte sich über sie – zwei Gefühle in ihm kämpften miteinander, der Wunsch, sie nur einmal anzufassen, sie zu küssen, und die Furcht, sie könne dadurch wach werden. Diese Furcht aber war stärker. Rasch richtete er sich auf, wandte sich ab und ging hinaus. Noch einmal knarrte die Tür – es war wieder dunkel im Zimmer. … Die Uhr schlug sieben, da wurde ich wach. Durch die gelben Blätter der Birke vor dem Fenster schien hell die Sonne. Rasch zog ich mich an und blickte ins Zimmer nebenan. Dort schliefen sie noch. Ich machte die Tür wieder zu und weckte mein Schwesterchen. “Wo ist die Mammi?” fragte sie, rieb sich die Augen und schaute auf das leere Bett.
“Mammi haben sie ins Krankenhaus gerufen. Sie hat mir gesagt, ich soll dich zur Großmutter bringen.” Mein Schwesterchen lachte und drohte schelmisch mit dem Finger. “Das ist ja gar nicht wahr, Borka! Großmutter hat doch erst gestern gesagt, ich soll kommen, aber Mammi hat es nicht gewollt.” “Ja, gestern, aber jetzt hat sie es sich anders überlegt. Zieh dich schnell an… Sieh mal, wie schön es heute ist. Da nimmt dich Großmutter bestimmt mit in den Wald.” Schließlich glaubte sie, dass es kein Scherz war, und richtete sich rasch auf. Während ich ihr beim Anziehen half, plauderte sie unentwegt: “Hat es sich Mammi doch anders überlegt? Das ist aber fein. Und unsere Katze, die Lissi, die nehmen wir auch mit, ja, Borka?… Wenn du die nicht willst, dann aber den Purzel. Der macht noch mehr Spaß… Gestern hat er mich im Gesicht geleckt, aber Mammi hat geschimpft. Sie hat das nicht gern, wenn man sie im Gesicht leckt. Einmal, da lag sie im Garten, und da hat sie der Purzel geleckt, und da hat er was mit dem Stock gekriegt.” Sie sprang aus dem Bett und lief zur Tür. “Borka, mach doch mal auf. Mein Tuch, das liegt da noch in der Ecke, da ist auch mein Wagen.” Ich zog sie von der Tür fort und setzte sie wieder aufs Bett. “Da darfst du jetzt nicht rein, Tanjuschka, da schläft ein fremder Onkel, der ist gestern gekommen.” “Was für‘n Onkel?” fragte sie. “Der vom letzten Mal?” “Ja, ja, der vom letzten Mal.” Der Weg nach Iwanowskoje führte an der Tescha entlang. Mein Schwesterchen lief voraus. Alle Augenblicke blieb sie stehen, hob ein Stöckchen auf, schaute den Gänsen zu, die im Wasser plantschten, oder hatte sonst irgendwas. Ich ging langsam hinterher. Die Frische des Morgens, die gelbgrüne Weite der herbstlichen Felder, das eintönige Glockengebimmel der weidenden Herde – das alles machte mich wieder ruhig. Ein Gedanke, der sich mir aufgedrängt und mich die ganze Nacht gequält hatte, er nahm jetzt Gestalt an; ich versuchte schon nicht mehr, ihn loszuwerden. Immer wieder musste ich an den Klumpen Erde denken, der auf das Fensterbrett geflogen war. Natürlich war es nicht der Wind gewesen. Wie hätte auch der Wind einen solchen Brocken, mit Wurzeln drin, aus dem Boden reißen können? Das hatte Vater getan, er wollte sich bemerkbar machen. Bei Sturm und Regen hatte er sich im Garten versteckt, hatte gewartet, dass Fedka nach Hause ging. Tanjuschka sollte ihn nicht sehen. Sie war noch zu klein und hätte sich verplappern können. Wenn aber ein Soldat auf Urlaub kam, brauchte er sich vor niemandem zu verstecken… Ich zweifelte nicht mehr daran, mein Vater war ein Deserteur.
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