Solches tun wir, damit wir nicht in einer neuerlichen Verderbnis zuschanden werden, sondern in Einklang mit der Schöpfung leben immerdar.“
Mit diesem Appell ließ die Archontin ihre Arme wieder sinken, hängte sich den Kranz über die Schulter, warf noch einen letzten Blick über die versammelte Menge und schritt zu dem Takt des Schnarrens und den Klängen der Melodie, die nun wieder einsetzten, zurück zum Hort der Beratung. Als sich dessen Türen langsam hinter ihr geschlossen hatten, wurde der Sang der Drehleiern immer leiser, nur das Brummen der Basssaiten flutete noch eine geraume Weile über den Platz. Als dann schließlich auch die letzten Schwingungen abgeebbt waren, schwangen die pendelnden Oberkörper der Mannlinge allmählich aus und es kam wieder individuelle Bewegung in die Menge.
Neben Brachvogel, dessen Geist dieses Mal mehr Energie hatte aufwenden müssen als sonst, um den dunklen Lockungen zu widerstehen, erwachte nun auch Agror langsam aus seiner Benommenheit.
„Nun, wohl geruht?“, griente Brachvogel ihn an. Er hatte die eigenartige Wirkung des tiefen Tönens oft genug beobachten können: Stets waren die, die ihm anheimfielen, von dem beseelt, was die Archontin in solchen Ansprachen beschwor, konnten sich aber mit wachem Geist an nichts erinnern, was vorgefallen war.
„Was heißt hier geruht“, erwiderte Agror, „ich habe die Botschaft der Archontin aufgenommen.“
„So, welche Botschaft genau hat sie uns denn heute zu Gehör gebracht?“, hakte Brachvogel nach.
Wie immer, aus einem Dämmerzustand auftauchend, zog Agror, offensichtlich angestrengt überlegend, die Stirn in Falten, konnte aber nichts Fassbares zutage fördern. Er empfand in diesen Situationen die bohrenden Fragen seines Freundes als besserwisserische Kleinkrämerei.
„Ehm, wie dem auch immer sein mag“, erwiderte er etwas unwirsch, „jedenfalls sollten wir keine Zeit vertun, die Gunst der Großen Mondin zu nutzen und damit beginnen, die Äcker zu bestellen. Und zwar so, wie es uns die Große Luna vorgegeben hat!“
Dies brachte er mit der Emphase vor, die stets unter den Mannlingen ausbrach, wenn sie dem dunklen Sang der Leiern ausgeliefert gewesen waren.
Brachvogel wusste aus Erfahrung, dass sich in ein paar Stunden schon die leuchtenden Augen der Mannlinge wieder trüben und die tatkräftige Begeisterung dem gewöhnlichen müden Alltagstrott weichen würde. Einerseits war er froh, der Musik wieder einmal getrotzt und sich seinen eigenständigen Geist bewahrt zu haben. Seit er in der Stätte der Aufzucht erstmals dem tiefen Tönen ausgesetzt gewesen war, hatte er sich dem Sog dessen Lockung immer widersetzt, denn es war etwas in ihm, das sich nicht beugen konnte, sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Oft genug hatte er sich aber auch gewünscht, sich wie Agror anheimgeben und fallen lassen zu können, um für eine Weile sein ich aufzugeben und in der Gemeinschaft der Mannlinge unterzugehen. Es zermürbte ihn, stets mit seinen Gedanken und Gefühlen isoliert zu sein, nicht dazuzugehören, immer am Rande zu stehen.
Die Klave betrieb eine Dreifelderwirtschaft. Während in jährlichem Wechsel ein Drittel der verfügbaren Ackerfläche brach lag, damit die Erde, nachdem sie Frucht erbracht hatte, wieder neue Kräfte sammeln konnte, wurden auf einem weiteren Drittel im Herbst Roggen, Weizen, Dinkel und Emmer angebaut und das letzte Drittel im Frühjahr mit Hafer, Gerste, Hirse, Ölfrüchten und Gemüse bestellt. Die brachliegenden Felder galt es nun in dieser und den folgenden Nächten nach den Regeln von Demut und Besonnenheit behutsam aufzubrechen und für die Aufnahme neuen Samens vorzubereiten.
Überall entwickelte sich jetzt emsige Geschäftigkeit. Die Weisungsfrauen teilten die Mannlinge in Gruppen ein, die sich, um in der für die vielfältigen Tätigkeiten immer zu knapp bemessenen Nacht der vollen Mondin keine Zeit zu verlieren, eiligst zu den Brachen aufmachten. Die Menge wimmelte zunächst wild durcheinander und floss dann in Richtung Lunagleiß hinunter, um sich auf dem Fahrweg in entgegengesetzte Richtungen aufzuteilen. Ein Teil der Mannlinge preschte auf schon bereitstehenden Reitebseln zu den flussaufwärts gelegenen Äckern, während diejenigen, die die flussabwarts liegenden Brachen zu bearbeiten hatten, in am Ufer festgemachte Boote sprangen.
Da viele Äcker etliche Wegstunden von der Klave entfernt lagen, waren schon Tage zuvor Agror und andere für die Wartung der Ackergerätschaften zuständige Gehilflinge der Eisenfrau jeweils von einer Wächterin beaufsichtigt mit Gespannen der schwerfälligen Zugebsel aufgebrochen, um Saat, Pflüge, Eggen und Proviant zu den Brachen zu schaffen. Sie hatten in die Mitte der Äcker den Pflugpfahl gesetzt und waren dann zu Fuß zur Klave zurückgekehrt, um an der Zeremonie teilnehmen zu können. Jeweils eine Wächterin war zur Bewachung der Tiere, der Ackergerätschaften und der Säcke kostbaren Saatguts auf den zu bearbeitenden Brachen zurückgeblieben.
Jetzt saßen Brachvogel und Agror in einem der übervollen Boote, die auf der breiten Bahn schimmernden Lichts, die die Mondin aufs Wasser warf, die Gleiß hinuntertrieben. Am Ufer zogen die Gewerke und Hütten der Klave vorbei und bald schon hatten sie den südlichen Wall hinter sich gelassen. Die Flanke der Fernwarte senkte sich allmählich und das Land öffnete sich Wiesen, niedrigem Gehölz und kleinen Baumgruppen. Gelegentlich schallte der klagende Ruf eines Ufervogels, der sich gestört fühlte, über die weite Wasserfläche, sonst herrschte bis auf das Knarren der Ruder in den Dollen eine mondene Stille.
An einer bestimmten Landmarke hieß die im Heck sitzende Weisungsfrau die Mannlinge ans Ufer steuern und die erste Gruppe verließ das Boot und machte sich zu den ihr zugeteilten Äckern auf. Dies wiederholte sich einige Male, bis schließlich auch die beiden Freunde an der Reihe waren. Obwohl das Pflügen zu den Obliegenheiten der Springlinge gehörte, hatte es die Eisenfrau auf Brachvogels Bitte hin so einzurichten gewusst, dass diesmal auch ihr Gehilfling Agror mit zum Pflügen ausfuhr. Denn lange schon bewegte Brachvogel eine Idee in seinem Kopf und hatte deren praktische Umsetzung, die er in dieser Nacht erproben wollte, auch schon mit seinem Freunde ausgeheckt.
Vom Fluss war es noch eine Strecke Weges bis zu den Äckern und die beiden Mannlinge schritten, nachdem sie Morast und Röhricht des Ufers hinter sich gelassen hatten, kräftig aus. Der schmale, wenig ausgetretene Pfad wand sich um einige Hügel, bis sie schließlich auf eine weit gestreckte Ebene kamen, von der die Weisen Frauen einst aus Gründen, die sich Brachvogels Nachvollzug entzogen, orakelt hatten, dass sie geeignet sei, Frucht zu tragen. Am Rande einer kleinen Baumgruppe hoben sich drei kreisrunde und nach dem Sicheln und Jäten schon wieder von handbreit hoch stehenden Unkräutern überwucherte Flächen von den grasbestandenen und mit kleinen und größeren Steinen übersäten Bodenwellen ab. Der jeweils in ihrer Mitte ragende Pflugpfahl warf schon einen deutlich längeren Schatten als Brachvogel zum Zeitpunkt seines Aufbruchs.
Da kam ihnen auch schon sichtlich ungeduldig eine Gestalt entgegen. Gewiss die Wächterin, die hier Wacht hielt und ihrer schon geharrt hatte. Als sie näherkam, erkannte Brachvogel, um wen es sich handelte. „Natürlich, ausgerechnet Bruna“, stöhnte er innerlich, denn mit dieser Frau lag er in Dauerfehde und sie drangsalierte und kujonierte ihn, wo und wie sie nur konnte.
„Um Lunas Willen, wo bleibt ihr denn? Bequemt ihr tumbes Mannlingsvolk euch auch endlich mal her?, herrschte sie die beiden Freunde an. „Brachvogel, du magst zwar Zeugungsträger sein“, sie richtete einen despektierlichen Blick auf seinen Schritt, „aber auch solche wie du haben mit anzupacken. Wir haben jetzt vielleicht noch fünf Stunden, bis die Sonne aufgeht und unsere Mühen hinfällig werden lässt. Los ihr Tränentiere, kommt in die Hufe und sputet euch gefälligst.“
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