Die grundlegenden Abläufe der Matchingprozesse in der Urb sind dir natürlich bekannt: Ihr Ziel ist – und das kann ich nicht oft genug wiederholen – das Schaffen von Sicherheit durch eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität. Lass uns mit diesem Ziel im Hinterkopf einmal die grundlegenden sozialen Aktivitäten ins Auge fassen, also im Grunde alles das, was du im Rahmen einer MatchingSession managst. Was regelst du denn da so?“
View zögerte kurz. War das eine versteckte Prüfung? Doch wie auch immer, sie musste antworten. „Ich bewerte, ranke, klassifiziere und kategorisiere das, was die Peers meiner SocialUnit und ich tagsüber erlebt haben, um es in Übereinstimmung zu bringen und Mitteln zu können.“
„Was machst du da beispielsweise ganz konkret?“
„Ich beurteile und bewerte meine Meinungen, Einstellungen und mein Verhalten, indem ich sie den vom System angetragenen Kategorien zuweise und in ein Ranking einordne, ich klassifiziere Produkte und Services, bringe sie ebenfalls in eine Rangfolge und analysiere so meine und die entsprechenden Käufe der Peers meiner SocialUnit ... und im Zweifelsfalle starte ich eine MatchingSchleife, um ein Verhalten, die Bewertung eines Verhaltens oder die Bewertung eines Produktes oder eines Services zu mitteln.“
„In welchem Zweifelsfalle?“
„Ja, natürlich immer dann, wenn ein Peer im Verhalten, einem Kauf, einer Meinung oder einem Classifying vom Mittel meiner SocialUnit zu sehr abweicht, versuchen wir übrigen Peers das in einem MatchingLoop wieder anzugleichen und zu mitteln.“
„Ganz genau! Wie erlebst du es, wenn deine SocialUnit wegen deines eigenen Verhaltens oder Votens ein MatchingLoop startet?“
„Dann bin ich immer neugierig festzustellen, aufgrund welchen Verhaltens, welcher Wahlen, Classifyings und Votings ich vom Mittel abgewichen bin und bin, ehrlich gesagt, auch immer etwas unruhig, bis dann alles geklärt ist.“
„Schön. Das verstehe ich sehr gut. In der Regel kann es ja durchaus einigen Takt dauern, bis jemand wieder in die Mitte seiner Unit zurückgeholt wird. Schließlich sollen der Loop und die individualisierten Anträge des Systems ja niemanden abrupt in die Mitte zurückzwingen, sondern davon überzeugen, dass Mittelung eine höhere Lebensqualität bringt, weil sie unser aller Leben vorhersehbar und damit sicherer macht. Unser Ziel, eine absolut sichere Gesellschaft zu schaffen, können wir langfristig nur über Einsicht erreichen. Zwang schafft zwar kurzfristig Stabilität, provoziert aber letztlich immer Widerstand. Und Widerstand macht die Dinge unberechenbar.
Aber, um auf unser Thema zurückzukommen, deine Aufgabe in der Agency: Worin siehst du den Unterschied zwischen einem Kauf oder einem Verhalten einerseits und einer Bewertung, einem Ranking oder einer Klassifizierung andererseits?“
„Mhm, was meinst du damit?“
„Kaufen und Verhalten oder Classifying und Ranken ... all das sind wirtschafts-soziale Handlungen. Aber siehst du zwischen ihnen einen grundlegenden Unterschied?“
Was sollte das nun wieder? View überlegte angestrengt. „Verhalten und Kaufen lassen sich irgendwie anders nachvollziehen als Classifying und Ranken. Wer was, wie, wo und zum großen Teil auch warum gekauft hat, ist in OmniNet ja in allen Details nachvollziehbar und alles Verhalten wird von den Recordern unserer MatchingEyes aufgezeichnet und ist jederzeit wieder abrufbar. Classifying und Ranken sind zwar auch dokumentiert, aber sie sind einfach nicht so greifbar ... da ist noch etwas anderes, irgendwie noch mehr.“
„Nicht so greifbar … Das gefällt mir gut. Du bist auf der richtigen Spur. Denke da mal weiter.“
„Verhalten und Kaufen sind vielleicht die äußeren Ergebnisse von eher inneren Prozessen, die mit Meinungen und Bewertungen, also letztlich mit Classifying und Ranken zu tun haben.“
„That’s it: innen und außen. Eine Einsicht wie diese hatte ich von dir erwartet und damit hast du exakt die Grundlage und dringende Notwendigkeit unseres Jobs charakterisiert! Die LegionBytes an Daten, die in der MatchingAdministration zusammenlaufen, schaffen einen überaus mächtigen Datenkorpus und mittels der dort gespeicherten LifeScripts lässt sich praktisch jede wichtige Schlüsselszene im Leben eines jedes Citizen nachvollziehen und beurteilen. Auf Basis der Algorithmen, die uns das System anträgt, sind wir in der Lage, aus Daten, die scheinbar nicht das Geringste mit einander zu tun haben, Zusammenhänge zu erkennen und Bezüge zu stiften, denen wir mit unseren kurz greifenden Alltagsverstand und logischem Denken nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen wären.
Etwas überzogen ausgedrückt, korreliert das System die Frequenz des Wimpernschlags und die Anzahl der Sommersprossen von Korol2ax auf Ground 7 und seine Präferenz, in 83,54 Prozent seiner Besuche im HoloCine auf Ground 29 in Reihe 18 zu sitzen, mit der Tatsache, dass Agnat6n4 niemals auf Ground 12 zum RhythmClimbing gegangen ist, und kann darüber die Wahrscheinlichkeit, dass Azot5m1 in den nächsten 12,53 MegaTakten im FlagshipStore von Pear auf Ground 19 einen ChaosOrganizer 3.0 kaufen wird, mit einer bis auf die vierte Nachkommstelle exakten Wahrscheinlichkeit prognostizieren.
Damit haben wir nicht alles, aber doch das meiste im Griff. Es ist tatsächlich so: Korrelationen bringen Vorhersagbarkeit und damit Sicherheit. Wenn du nun noch bedenkst, dass wir selbst das Verhalten von Dismatchten ‒ so bezeichnen wir Citizens, die lang anhaltend oder extrem abweichen ‒ durch individuell zugeschnittene Fragen und Anträge des Systems Stück für Stück wieder recentern, ausmitteln und sie zudem durch die Bindungs- und Kohärenzkräfte der MatchingLoops ihrer jeweiligen SocialUnit nach und nach wieder zentriert werden, wird klar, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Großteil des Verhaltens voraussagen können. Der Zuwachs an Sicherheit für die Urb steigt so kontinuierlich.
Aber so mächtig der uns zur Verfügung stehende Datenkorpus und die allgegenwärtige Tendenz zur Mittelung auch sind, erfassen wir letztlich doch immer nur das Äußere eines wirtschafts-sozialen Verhaltens. Das System kann den Citizens immer nur vor die Stirn blicken, nicht aber in den Kopf sehen. Doch wir sind ehrgeizig, wir wollen mehr. Erst wenn sich uns auch das Innere jedes einzelnen Citizens erschließt, weil wir die seinem Verhalten zugrunde liegenden Beweggründe und Motive verstehen, können wir alles verstehen und damit auch alles prognostizieren.
Und hier kommst nun du ins Spiel. Wir brauchen empirische Feldforschung, um zu ergründen, was einen Citizen dazu bringt, vom Mittel abzuweichen. Wir brauchen empirische Feldforschung, um Aufschluss über die Wirksamkeit von Anreizfaktoren und Motivatoren für die Wahl von Kategorien und die Abgabe von Votings und Ratings zu bekommen, die das System Abweichlern anträgt, um sie wieder zu mitteln Was motiviert einen Abweichler – im Extremfall einen Dismatchten – ganz konkret und im Detail, die individuellen Anträge des Systems anzunehmen oder dem Druck seiner Peers nachzugeben? Welche tieferen Beweggründe hat er, wieder in die Mitte seiner Unit zurückzukehren? Je mehr wir darüber wissen, desto wirkungsvoller können wir mithilfe der Anträge des Systems unsere Interventionen gestalten und steuern, desto schneller können wir Abweichler wieder einfangen und mitteln.
Natürlich stellt das System entsprechende Test- und Kontrollfragen, natürlich zeichnen die MatchingEyes während ihrer Beantwortung und auch im Verlauf eines MatchingLoops selbst minimale Veränderungen der Mimik auf und natürlich messen und melden die Nanobots in den Körpern der Citizens Veränderungen in der Körperchemie, die auf die Vorgänge in ihren Köpfen schließen lassen. Trotzdem bleibt da immer noch ein mehr oder weniger großer Bereich an innerer Disposition, der für uns eine BlackBox darstellt, deren Inhalt wir nicht erfassen können – noch nicht erfassen können.
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