Jaris und Jaden brüllten um die Wette.
»Ich geh nicht zur Nachbarin!«
»Ich will Papa wiederhaben!«
»Du hast uns eine Geschichte versprochen!«
»Ihr habt gehört, was Vater gesagt hat!« Philip ging zwischen seinen Brüdern in die Hocke. »Ich muss jetzt gehen und Vater helfen. Ihr wartet solange bei Gertraud. Keine Widerrede!«
»Aber unsere Geschichte …?«
»Die werde ich nicht vergessen«, versprach Philip.
Der Weg zur Schmiede führte Philip wieder am alten Turm vorbei, dann rechts die Straße hinunter. Nach etwa dreißig Schritten auf der schmalen, abschüssigen Gasse überquerte er die neue Hauptstraße, die vom Waldtor in die Stadt führte. Im Schatten der südlichen Stadtmauer stand die Schmiede.
Philip bog in die leicht gewundene Sackgasse, die von der Hauptstraße zur Schmiede hinunterführte ein. Sein Vater war nirgendwo zu sehen, ebenso wenig Ruben, sein Gehilfe. Tür zur Schmiede war zu, so, als wäre niemand da.
»Vater?« Philip zögerte, und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Abgesperrt!
»Vater?«, rief Philip nun etwas lauter. Drinnen bewegte sich etwas, dann wurde am Schloss gerüttelt, und schließlich erschien Feodors Gesicht im Türspalt. Seine Hand packte Philips Arm, zog ihn zur Tür hinein und sperrte rasch hinter ihm zu. Nach dem warmen und hellen Sonnenschein draußen war es in der Schmiede düster. Der Schmiedeofen, der sonst immer ein angenehmes Licht verbreitete, war kalt. Aus dem Dunkel hörte Philip ein leises Geräusch, das entfernt an das Maunzen eines Kätzchens erinnerte.
»Komm mit.« Feodor führte seinen Sohn in den hintersten Winkel der Schmiede.
Langsam gewöhnten sich Philips Augen an das Dunkel, und er konnte erkennen, dass auf dem Handwagen, den Vater immer benutzte, um sein Werkzeug zu transportieren oder eben um ab und zu Wild aus dem Wald ohne größeres Aufsehen in die Stadt zu bringen, etwas lag, das seltsame Töne von sich gab.
Ein Tier? Vater war nicht zimperlich, ein verletztes Tier hätte er sofort von seinen Qualen erlöst. Was also lag auf dem Wagen? Philip machte einen Schritt darauf zu.
»Sei vorsichtig«, mahnte Feodor. »Sie kratzt und beißt, wenn sie wach ist.«
Jetzt erkannte Philip, dass eine Frau unter der schmierigen Decke lag. Ihr goldenes Haar umrahmte ihren Kopf wie ein Strahlenkranz. Sie regte sich nicht. Philip fand sie wunderschön. Sprachlos stand er da.
»Sie hat stark geblutet«, sagte Feodor. »Phine könnte ihr und dem Kind helfen.«
Erst jetzt bemerkte Philip das winzige Geschöpf auf dem Bauch der Frau. Als er es ansah, bewegte es sich und gab wieder diesen leise maunzenden Laut von sich.
»Wir bringen sie nach Hause, und ich hole schnell Mutter. Elvira bekommt bestimmt ihr erstes Kind, es kann also noch eine ganze Weile dauern, bis es wirklich da ist. Komm, wir …«
Feodor packte Philip am Arm und hinderte ihn daran, sofort loszustürmen.
»Warte! Warte.« Erst als er sicher war, dass Philip stehenbleiben würde, ließ er seinen Arm los. »Ich habe sie im Wald gefunden. Sie hat dort heute Nacht alleine ihr Kind geboren …«
»Ein Grund mehr, Mutter zu holen. Die kennt sich doch mit sowas aus!«, rief Philip nun selbst ganz aufgeregt, weil sein Vater sich so anstellte. Falls diese Frau ihr Kind heimlich zur Welt gebracht hatte, konnte diese Geburt für sie doch immer noch geheim bleiben. Er setzte schon an, seinem Vater genau das zu erklären, aber der schob ihn zurück zu dem Wagen. »Schau sie dir genau an Philip, sie ist kein Mensch«, flüsterte er.
Was sollte das heißen, kein Mensch? Mit offenem Mund starrte Philip seinen Vater an, doch der hielt seinem Blick stand und deutete mit einer Kopfbewegung an, er solle genau hinschauen. Philip betrachtete das bleiche Gesicht. Da lag eine wunderschöne Frau mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase. Selbst in diesem Zustand wirkte es stolz und anmutig. Trotzdem war da auch etwas in ihren Gesichtszügen, das sie fremd wirken ließ. Philip konnte es nicht beschreiben, aber ein wenig erinnerte sie ihn an die Gestalt auf dem Deckel von Theophils Buch.
Konnte das überhaupt sein? Das würde ja bedeuten, dass es im Wald tatsächlich Wesen gab, die keine Menschen waren? Neugierig streifte er mit der Hand ihre Haare zurück und erhaschte einen Blick auf ihre Ohren. Sie waren klein und vollkommen, doch am oberen Ende liefen sie spitz zu. Erschrocken zog Philip die Hand zurück.
Kein Mensch , dachte er wieder. Sein Kopf schwirrte. Es kam ihm vor, als hätte man ihn aus seinem Leben gerissen und in eine seiner Geschichten getaucht. Das alles konnte überhaupt nicht wahr sein. Doch je länger er das Wesen betrachtete, desto offensichtlicher wurden die Unterschiede. Ihr Haar war glänzend schön, in einer Farbe wie flüssiger Honig, durch den die Sonne schien. Ihre Haut war makellos und elfenbeinweiß. Er wünschte sich, ihre Augen zu sehen, doch sie waren unter den Lidern geheimnisvoll verborgen und von einem Halbmond nussbrauner Wimpern umkränzt. Sein Herz pochte wild gegen die Brust. Es gibt wirklich Elben. Es ist wahr, dachte er. Es ist wahr, es ist wahr! Doch was von all den Geschichten stimmte wirklich? Und was sollten sie jetzt mit ihr anfangen?
»Sag mal«, überlegte Feodor laut und brachte Philip in die Wirklichkeit zurück. »Elvira ist doch Matthias` Frau?« Er massierte sich mit beiden Händen die Schläfen.
»Ja«, brummte Philip geistesabwesend, während er immer noch auf den Wagen starrte und zu begreifen versuchte, was er hier gerade erlebte.
»Er wohnt gleich hinter dem Waldtor auf der anderen Straßenseite. Du solltest deine Mutter doch holen.« Feodor sah Philip an, der mit roten Wangen unschlüssig dastand.
»Jetzt gleich?«
»Lauf! «
Philip wollte der Aufforderung nachkommen, aber seine Beine bewegten sich nur schwer von der Stelle. Auf dem Weg zur Tür fiel ihm plötzlich Ruben ein.
»Wo ist Ruben?«
»Dem hab ich gesagt, dass ich krank bin, und hab ihn heimgeschickt. Lauf jetzt«, forderte Feodor ungeduldig.
Philip stürmte die Einfahrt hoch, rannte die Hauptstraße entlang am Waldtor vorbei und stand schließlich vor dem Haus, in dem seine Mutter alles für die bevorstehende Geburt vorbereitete.
Er klopfte. Als niemand öffnete, klopfte er noch einmal und drückte dann die Türklinke hinunter. Die Tür sprang auf.
»Hallo!«, rief er, als ein hagerer Mann aus dem Zimmer trat.
»Ja?«
»Ich suche meine Mutter«, sagte Philip.
»Ach, du bist das!« Jetzt erkannte der Mann ihn auch. »Sie ist bei meiner Frau.«
In dem Moment erklang ein markerschütternder Schrei aus dem Nebenzimmer, der Mann erbleichte und stürmte durch die Tür, aus der der Schrei gekommen war.
Gleich darauf wurde er rückwärts aus dem Zimmer geschoben.
»Entspann dich, Matthias«, befahl die Hebamme. »Sonst jag ich dich aus dem Haus.«
»Aber … Aber sie hat Schm…«
»Unter Schmerzen bringen alle Frauen ihre Kinder zur Welt. Elvira ist eine starke und gesunde Frau, das …« Ihr Blick fiel auf Philip, und sie verstummte. Einen kurzen Augenblick sahen sich Mutter und Sohn schweigend an.
»Vater braucht dich in der Schmiede«, sagte Philip endlich.
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
»Braucht er einen Arzt?«
»Nein, er braucht dich«, antwortete er.
»Du kannst jetzt nicht gehen, Josephine. Was wird aus meiner Frau?« Matthias sprang vor die Tür, um ihr den Ausgang zu versperren. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Deiner Frau geht es gut, Matthias. Das Kind lässt sich noch etwas Zeit. Und ich bin gleich wieder da.«
»ABER …«, protestierte Matthias.
»Hör zu. Ich lasse dir Philip hier.« Sie sah Philip eindringlich an. »Wenn irgendetwas ist, dann schickst du ihn. Du weißt doch, wo die Schmiede ist! Ich bin sofort wieder da!«
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