Schade, ich bekomme meine Augen immer noch nicht auf. Ich weiß, dass Mia und Jan an meinem Bett sitzen, ich kann ihnen jedoch nicht mal begreiflich machen, dass ich nicht mehr schlafe, sondern eigentlich wach bin. Ach, das ist alles so merkwürdig. Diesen Urlaub in Barcelona hat es tatsächlich gegeben, aber er ist in Wirklichkeit etwas anders abgelaufen. Wir verbrachten nur einen Abend mit Pablo, denn vor unserer Prüfung habe ich gar nicht so fleißig gelernt, wie ich es gerade noch erlebte. Ich bin auf die Party von Lars gegangen und habe auf Teufel komm raus mit ihm geflirtet. Danach waren wir ein halbes Jahr zusammen. Mia war damals allerdings auch irgendwann etwas genervt, ich habe sie wirklich vernachlässigt, denn aus Barcelona rief ich vor lauter Sehnsucht öfter bei Lars an, bis ihr schließlich der Kragen geplatzt ist. Anscheinend war es doch vorbestimmt, dass wir uns mal wegen einem Mann streiten sollten. Leider ist meine Mathe-Prüfung damals nicht ganz so gut ausgefallen. Mia stattete der Party von Lars nur einen kurzen Besuch ab und ging dann noch lernen, aber ich blieb bis zum Schluss, schließlich wollte ich meine neue Eroberung nicht so schnell hergeben. Immerhin, ich habe trotzdem ein ganz gutes Abi gemacht (okay, bis auf die Mathe-Note) und heute fragt da sowieso keiner mehr nach.
Jan und Mia unterhalten sich, Jan hält meine Hand. Ich würde sie so gerne drücken, aber es geht nicht. »Ob sie uns gerade hören kann?«, fragt Mia Jan. Ich möchte schreien: »Ja, ja, ich kann alles hören, ich möchte so gerne mit euch sprechen, ich bin hiiier!!!!!«, aber ich kann mich nicht bewegen, überhaupt nicht. Obwohl ich versuche, meine Muskeln anzuspannen. Jan, der eben noch mit dem Daumen über meine Finger gestreichelt hat, hält kurz inne. »Ich glaube, Lilly hat gerade ein wenig ihre Hand bewegt, ganz leicht.« Mia und Jan sind ruhig, ich kann förmlich vor mir sehen, wie sie mich mustern und auf eine Regung von mir warten. Aber alle Anstrengung nützt nichts, ich kann mich kein Stück regen, so sehr ich es auch möchte. Ich bin eingesperrt in meinem Körper, der mir nicht mehr gehorcht. »Ich muss langsam gehen«, meint Mia. »Ich sitze auch schon seit 4 Stunden hier, ich muss mal etwas Essen gehen«, erwidert Jan. Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und streicht mir über die Stirn. »Schlaf schön Lilly, werde gesund, und dann wach doch bitte, bitte auf, wenn ich nachher wieder komme«, flüstert Jan mir ins Ohr. Die beiden verlassen das Zimmer und ich bin alleine.
Sophie steht im Badezimmer vor dem Spiegel und grinst. So erleichtert war sie schon lange nicht mehr. Ganz von alleine hat sich die Frage, ob sie sich in ein paar Monaten um ein drittes Kind würde kümmern müssen, erledigt, ohne Test. Sie war einfach ein wenig überfällig. Sie hätte ein weiteres Baby mit Sicherheit bekommen, sie ist zwar keine Abtreibungs-Gegnerin, aber sie selber könnte das nicht. So fühlt sie sich aber viel besser. Kein weiteres Kind, das heißt, sie kann endlich überlegen, wie ihr Leben weitergeht und womit sie zukünftig vielleicht auch etwas Geld verdienen möchte.
Sophie geht aus dem Bad und sieht Oliver im Flur stehen, mit der Apothekentüte und dem Test in der Hand. Oliver fährt hektisch zu ihr herum »Schatz, du weißt, ich würde nie in deinen Sachen wühlen, aber Felix wollte seinen Teddy haben, der war in deiner Tasche und da ist diese Tüte heraus gefallen. Als ich sie aufgehoben habe, fiel ein Schwangerschaftstest heraus…. Na ja …nun frage ich mich natürlich, ob wir noch ein Kind bekommen…«. Er grinst schief und Sophie rutscht das Herz in die Hose. Er freut sich, und sie ist doch so erleichtert, dass sie um diese Sache herumgekommen ist. Das war eigentlich auch nie ein Thema, aber Oliver hat selber drei Geschwister und fand das immer toll. Sophie geht auf ihn zu. »Nein, ein drittes Kind bekommen wir nicht. Ich hatte den Test vor dem Unfall gekauft, das hat sich nun jedoch erledigt und ehrlich gesagt bin ich darüber auch ganz erleichtert.« Oliver seufzt »Ein wenig gefreut habe ich mich tatsächlich.« Sophie wuschelt Oliver durch die Haare. »Ich weiß, dass du Kinder liebst und ein super Vater bist, aber ich finde es so genau richtig, zwei Kinder und ein ungezogener Hund, das reicht doch, oder?« »Da hast du Recht, und jetzt muss Felix sich auch erst einmal wieder erholen.« Wie aufs Stichwort rasen Nele und Felix durch den Flur, beide mit einem Steckenpferd. Nele jagt hinter Felix her, Sophie sieht ihr an, dass sie extra langsamer ist als sonst, damit Felix sich nicht zu sehr anstrengt, aber der hat den Unfall erstaunlich gut weggesteckt. Seit er zu Hause ist, blüht er richtig auf. Seinen Teddy hat er sich unter den Arm geklemmt. Sophie hofft bloß, dass Frau Hartung sich nicht gleich wieder beschwert. Ihre Kinder rennen wirklich selten durch die Wohnung, aber wenn sie mal, so wie jetzt, durch den Flur hüpfen, dann wird meistens sofort von unten energisch mit einem Besenstiel gegen die Decke geklopft. »Diese Frau ist bestimmt schon erwachsen auf die Welt gekommen«, murrt Sophie. Sie läuft in die Küche und fängt an, Äpfel für einen Kuchen zu schneiden. Dabei summt sie vor sich hin. Backen entspannt sie immer sehr. Oliver sitzt am Küchentisch, lächelt sie an und schaut ihr zu. »Vielleicht hättest du damals doch Bäckerin werden sollen statt Buchhalterin. Das macht dir wenigstens richtig Spaß, und deine Kuchen sind die Besten, die ich kenne.« »Du bist befangen, das zählt nicht.« Sophie freut sich aber trotzdem über das Kompliment. Sie bekommt tatsächlich auch von Freunden immer wieder begeisterte Reaktionen auf ihre Backwerke. Sie liebt es, Rezepte ein wenig abzuwandeln, so dass die Kuchen gleich noch etwas besser schmecken. Nele und Felix stürmen in die Küche. Felix kuschelt sich an seinen Vater, in der Hand hält er einen Block und ein paar Stifte, im Arm seinen Teddy. Er kann die vielen Sachen gerade so halten. »Papa, malst du mit mir?«, bittet er und schenkt Oliver einen so treuherzigen Augenaufschlag, dass dieser nicht nein sagen kann.
Nele schleicht um ihre Mutter herum. »Darf ich den Teig mit dir anrühren«?, fragt sie. Sophie freut sich und lässt ihre Tochter die Zutaten in eine Schüssel geben. Sie erklärt ihr genau, wie viel Mehl, Zucker, Eier usw. sie für den Kuchen brauchen. Dann knetet Nele den Teig, den sie schließlich in die Form füllen, mit den Äpfeln belegen und in den Ofen schieben. Nele ist begeistert »Mama, das macht so einen Spaß und du kannst viel besser erklären als Frau Voigt, die blöde Musiklehrerin.« Sophie schaut ihre Tochter an. »Also Musik ist ja auch was anderes als backen, warum magst du diese Lehrerin nicht?« »Eigentlich ist sie mir egal, der Unterricht ist bloß so langweilig und die Frau hat so eine heisere Stimme. Wahrscheinlich, weil sie in der großen Pause immer heimlich vor der Schule rauchen geht. Aber wir haben sie ausspioniert und das entdeckt.« Nele hat gerade Sommerferien, wird bald 8 und geht eigentlich gerne zur Schule. Sie ist stolz, dass sie nach den Ferien schon in die dritte Klasse kommt. Nur die Musiklehrerin ist ein ewiges Thema, sie ist langweilig, sie ist blöd, der Unterricht ist öde, das ist allerdings nicht nur Neles Meinung, sondern auch die ihrer Freundinnen. Aber vielleicht hat sie ja Glück und bekommt im neuen Schuljahr eine andere Musiklehrerin. Nele hüpft wieder in ihr Zimmer, Felix im Schlepptau, der genug gemalt hat. In der Küche duftet es herrlich nach Apfelkuchen, Fleck liegt in seinem Körbchen und nagt an einem Hundekuchen und Sophie ist endlich mal rundum glücklich. Allerdings spukt ihr die Aussage ihrer Tochter durch den Kopf, dass sie so gut erklären kann, viel besser als ihre Musiklehrerin. Vielleicht lässt sich damit in der Zukunft ja noch etwas anfangen?
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