Ihr Spott tat weh, obwohl Emma längst daran gewöhnt sein müsste. „Lass mich in Ruhe.“
„Gern. Du bist sowieso eine blöde Kuh. Keiner mag dich. An deiner Stelle würde ich abhauen. Mom und Dad wären bestimmt froh darüber.“
Emma ließ den Kopf hängen. Es war immer dasselbe. Tiff schaffte es, sie zum Weinen zu bringen. Oder so weit, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Im Grunde hatte sie ja recht. Niemandem würde sie fehlen.
Ein Gedanke, der Emma durch ihre gesamte Kindheit begleitete. Sie blieb ein Fremdkörper in dieser Familie und fragte sich mit zunehmendem Alter, ob sie adoptiert worden war. Wer wusste es schon? Doch den Mumm, direkt nachzufragen, hatte sie nicht. Sonst würde es erneut heißen, dass sie aus allem ein Problem machte. Außerdem war ihr Vater mit den Jahren zunehmend weniger zuhause, wodurch sie nicht ständig seiner Nörgelei ausgesetzt war.
Mit einer kleinen Konditorei in London hatte seine kometenhafte Karriere begonnen. Als Emma zwölf war, besaß er bereits zig Filialen in ganz Großbritannien. Wenn er müde heimkam, zog er sich meistens in sein Büro unter dem Dach zurück und wollte nichts von den Problemen hören, mit denen sich die Mutter herumschlagen musste. Selbstredend, dass meistens Emma der Stein des Anstoßes war. Tiff ließ sich nämlich immer wildere Geschichten einfallen, um ihr den schwarzen Peter zuzuschieben. Nicht selten erfand sie sogar Sachen, um sie vor den Eltern in Ungnade fallen zu lassen. Wie unter anderem die dreiste Lüge, dass Emma Drogen nehmen würde. Ihr Vater war außer sich gewesen, der um seinen guten Ruf fürchtete. Nichts hasste er mehr als negative Publicity. Natürlich hatte Emma die haltlose Beschuldigung dementiert. Mit dem Ergebnis, dass ihr Vater sie das schwarze Schaf der Familie nannte. Sie war es wohl auch und wurde allmählich schweigsamer, bis sie sich überhaupt nicht mehr zur Wehr setzte.
Als Jugendliche flüchtete sie sich deshalb oft zu ihrer Tante Camilla, die eine Bücherei besaß. Die Schwester ihres Dads war nett, weshalb Emma mit sechzehn bei ihr im Laden jobbte. Manchmal kam ihre Mutter vorbei, um sich ein Buch zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit erteilte sie der Tante oft Ratschläge. Insbesondere, wie sie sich endlich den Mann fürs Leben angeln oder das Geschäft modernisieren könnte. Dabei war es gerade das altwürdige Ambiente der Bücherei, das Emma über alles liebte. Ihrer Tante ging es scheinbar ähnlich, die nichts Wesentliches änderte und mit einer Engelsgeduld darüber hinweg sah, wenn sich Emmas Mom besonders an Weihnachten über zu viel Dekoration im Buchladen mokierte.
In dieser Angelegenheit waren sich Emma und ihre Mom ausnahmsweise einig. Wer brauchte Weihnachten? Kein Mensch! Selbstredend, dass die Geschichte Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat von Kindesbeinen an zu ihren Lieblingsbüchern gehörte. Oft las sie ihrem Bären namens Grinch daraus vor. Diese Zeiten waren zwar vorbei, die Abneigung blieb. Insbesondere, da es im Buchladen überall glitzerte und funkelte. Wo war eine Müllhalde, wenn man sie brauchte? Und dann dieses Gedudel. Ob beim Einkaufen oder in den Straßen, überall wurde Weihnachten besungen. Kitschiger ging es nicht mehr! Dennoch war ihre Tante mittendrin statt nur dabei. Sie, die ansonsten lieber Bücher für sich sprechen ließ und unter dem Jahr auf jeglichen Ramsch verzichtete.
Gelinde gesagt zeigte sich ihre Tante entsetzt, als sie hinter Emmas Anti-Weihnachts-Haltung kam. Vermutlich drängte sie ihr deswegen eine rote Kugel mit einer Masche auf. Angeblich die erste, die sie sich von ihrem selbstverdienten Geld gekauft hatte. Mit den Worten: „Es kommt der Tag, an dem du den Zauber von Weihnachten fühlen wirst“, überreichte sie Emma das geschmacklose Ding. Nur mit Mühe widerstand diese dem Drang, die Kugel augenblicklich fallen zu lassen. Ob es an Camillas feierlicher Miene lag? Am sentimentalen Ausdruck in ihren Augen? Oder an der Liebe zur Tante? Jedenfalls wäre die Kugel ohne diese Gründe im Nirwana gelandet. So hortete Emma sie jedoch, verabscheute Weihnachten weiterhin mit großer Leidenschaft und zählte mit zunehmendem Alter den Film Der Grinch zu ihren Favoriten. Zumindest die erste Hälfte davon. Dann schaltete sie um. Das Buch hatte sie an ähnlicher Stelle ebenfalls stets weggelegt. Leider ließ sich der sympathische Weihnachtsmuffel in weiterer Folge bekehren. Das würde ihr in diesem Leben sicher nicht passieren!
Abgesehen von solchen Tiefpunkten gab es auch Höhen. Wenigstens durfte Emma den Beruf ergreifen, den sie erlernen wollte und ließ sich zur Konditorin ausbilden. Ein Wunsch, den sie bereits in jungen Jahren gehegt hatte, da der Vater manchmal die ganze Familie mit in den Laden nahm. Während Kim und Tiff im Gastraum herumtobten, verzog sich Emma meistens in die Küche und schaute den Angestellten über die Schulter. Was sie aus einem Klumpen Teig herstellten, faszinierte sie so sehr, dass sie ihnen nacheifern wollte. Vielleicht spielte die Hoffnung mit, dass ihr Vater stolz sein würde auf sie. Immerhin trat sie als Einzige in seine Fußstapfen. Doch vor anderen Leuten hob er stets Kim hervor, die Ärztin werden wollte. Oder Tiff, die sich für Modedesign interessierte. Emma blieb weiterhin unsichtbar. Ganz so, als wäre sie nie geboren worden. Eine Schneeflocke eben …
19. Dezember 2017, London, 22 Jahre später
Emma war völlig nassgeschwitzt, obwohl das beschlagene Fenster in der Backstube sperrangelweit offen stand. Hin und wieder verirrten sich Schneeflocken herein und tauten auf dem glänzenden Edelstahl der hypermodernen Gastronomieküche, die mit den besten Geräten ausgestattet war. Allein die Spülmaschine hatte ein Heidengeld gekostet, die just in diesem Augenblick piepste.
Seufzend warf sie den Lappen neben das verkrustete Backblech und öffnete die Maschine. Heißer Dampf quoll ihr entgegen. Ähnlich fühlte sich Emmas Innerstes an, während sie zur alten Bahnhofsuhr blickte, die über der Schwingtür hing. Fast zehn Uhr! Seit knapp vierzehn Stunden arbeitete sie und ein Ende war nicht in Sicht.
Erschöpft stellte sie sich zum Fenster und machte einen tiefen Atemzug. Dabei glaubte sie den Duft von gebrannten Mandeln wahrzunehmen. Hörte lautes Lachen und fröhliche Stimmen durch die Carnaby Street hallen, in der sich die Konditorei befand. Viele Menschen schlenderten an den hellerleuchteten Schaufenstern vorbei. Zur Weihnachtszeit war das Einkaufsviertel ein Besuchermagnet. Vor allem Touristen wurden mit vorweihnachtlichen Rabatten hergelockt. Von der Dekoration ganz zu schweigen. Wie in einem geschmacklosen Film schwebten riesige Leuchttafeln über der schneebedeckten Straße. Joy, Hope, Love …
„Hast du nichts zu tun?“, vernahm sie plötzlich die Stimme ihrer Schwester Tiffany.
Unwillig drehte sich Emma zu ihr um und fror auf einmal. Wie mondän ihre dreiunddreißigjährige Schwester im schwarzen Etuikleid aussah. Als wäre sie einem Filmklassiker entstiegen. Neben ihr konnte man sich nur wie das Aschenputtel fühlen. „Schau dich um und frag mich noch einmal“, piepste Emma. In Tiffs Gegenwart versagte ihr ständig die Stimme. Dabei würde es unheimlich guttun, endlich auf den Tisch zu hauen und ihrer Schwester die Meinung ins perfekt geschminkte Gesicht zu brüllen. Etwas, das sie sich tausendmal vorgestellt und genauso oft verworfen hatte. Im Wissen, dass sie gegen Tiff nur verlieren konnte. „Hast du dir schon Gedanken wegen meiner Arbeitszeit gemacht?“, schob Emma mit dünner Stimme nach. Vor einigen Tagen hatte sie sich nach wochenlangem Anlauf dazu durchgerungen, ihre Schwester um kürzere Arbeitszeiten zu bitten. Sie sah ihren Mann Brandon kaum noch. So konnte es nicht weitergehen, denn ein Privatleben kannte Emma mittlerweile nur vom Hörensagen. „Du weißt schon, wegen Brandon und so.“
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