„Der Text ist von Bruno Balz. Er engagierte sich im Dritten Reich in der Homosexuellenbewegung und wurde von der Gestapo mehrfach verhaftet. Nachdem er aus den Folterkellern der Geheimen Staatspolizei entlassen worden war, schrieb er das unvergessene Lied ‚Davon geht die Welt nicht unter‘. Beide Lieder sang Zarah Leander.“
„Magst du das Lied auch singen? Ich würde es sehr gern hören.“
Sie geht zu Ulrich. Der bittet alle Anwesenden um Ruhe. Dann singt seine Kommilitonin nochmals.
Davon geht die Welt nicht unter
Sieht man sie manchmal auch grau
Einmal wird sie wieder bunter
Einmal wird sie wieder himmelblau
Ich frage, nachdem sie das Lied beendet hat, nach ihrem Namen. „Wie heißt du?“
Sie lächelt. „Nenne mich Zarah.“ Dann verschwindet sie in der Menge der Studenten. Ulrichs Kommilitonin bleibt ein Geheimnis.
Die Stimmung ist sehr ausgelassen, obwohl die Feuerzangenbowle alkoholfrei ist. Zwei frische Kandidaten der Zahnmedizin knutschen in der Ecke des Fachschaftsraums. Ich stoße Lisa an. „Ob die sich vorher auch die Zähne geputzt haben?“
„Wieso?“
„Na, wegen der Übertragung der Kariesbakterien…“
„Keine Ahnung, Lars.“
Ulrich zitiert gern aus der Feuerzangenbowle. Er hat seinen großen Auftritt mit einem Glas alkoholfreiem Punsch in der rechten Hand. Er spricht den Schüler Pfeiffer und seinen Lehrer:
„‚Sehen sie, Pfeiffer, es ist nichts mit ihnen. Sie werden immer dümmer! In allen Fächern sind sie gut – nur in Deutsch werden sie immer schlimmer.‘
‚Deutsch liegt mir nicht, Herr Lehrer.‘
‚Ja, was wollen sie denn einmal werden, Pfeiffer?‘
‚Das weiß ich noch nicht.‘
‚Suchen sie sich einen Beruf, bei dem sie nicht viel zu schreiben haben. Am besten Zahnarzt.‘“
Alle lachen und heben dann das Glas. Lisa und ich trinken feste mit. Mir ist die Bowle allerdings zu süß. Egal. Ulrich macht nur einmal Physikum.
Mein Holokrypt-Tattoo flasht. Ich nehme den Call an. Jaels Avatar erscheint über meinem Handgelenk. „Lars, wir können nächste Woche starten.“
„Kommt nun doch ein Quantencomputer aus Tel Aviv?“
„Ja. Er kommt mit einer Sondermaschine von El Al. Und er wird zwei Begleiter haben.“
„Zwei Begleiter?“
„Noah Rubinstein und Samuel Kaikov werden den Quantencomputer eskortieren.“
„Nicht schlecht. Dann ist ja unsere alte Truppe fast wieder beisammen.“
„Ja, Lars. Nur Abraham Mandelzweig ist nicht mehr unter uns.“
„Manchmal denke ich noch an Abraham und vermisse ihn, Jael.“
„Ich auch.“
„Wann soll ich in Genf eintreffen?“
„Kannst du schon am Montag da sein?“
„Ich spreche mit Lisa. Ich denke, es sollte möglich sein.“
Wir beenden das Gespräch. Lisa schläft noch. Gestern Abend ist es auf der Studentenparty spät geworden. Aber ich höre Maurice. Ich glaube, er möchte gestillt werden. Ich hole ihn und bringe ihn zu Lisa. Und da kommt auch schon Francis. Wie schön. Wir stehen jetzt alle auf. Und ich bereite uns das Frühstück vor.
Francis beobachtet jede meiner Handbewegungen.
Ich schäle Grapefruits und richte die Schnitze in einer Schüssel an. Dazu brate ich Rührei und toaste Brot. Auf dem Esstisch im Wohnzimmer decke ich den Tisch mit dem Frühstück.
Francis setzt sich an den Tisch, und Lisa kommt mit Maurice zu uns. Sie legt ihn in eine Wippe, die auf dem Boden steht. Dann essen wir gemeinsam.
„Hattest du heute Morgen schon telefoniert? Ich dachte, ich hätte dich sprechen gehört.“
„Ja, Lisa. Jael sandte mir einen Call. Nächste Woche können wir unser Experiment starten. Bist du einverstanden, dass ich noch einmal für zwei oder drei Tage nach Genf fliege?“
Lisa nickt. Ich freue mich, dass sie mit meiner Reise einverstanden ist.
Francis ist im Kindergarten. Lisa begleitet mich zusammen mit Maurice zum Terminal des Rhein-Main Airports. Am Gate haben wir noch kurz Zeit, uns voneinander zu verabschieden. Mein Boarding startet in zehn Minuten. „Ich liebe dich, Lisa.“
„Ich liebe dich auch, Lars. Ich werde dich immer lieben.“
„Und du bist nicht eifersüchtig auf Jael? Du weißt, dass du dazu keinen Grund hast?“
„Ja, Lars. Ich vertraue dir. Es ist alles gut. Du kommst ja wieder.“
„Ja.“
Wir umarmen uns. Ich strecke Maurice meinen Zeigefinger entgegen. Er umklammert ihn sofort mit seiner kleinen Hand.
„Wie spektakulär ist das Projekt, an dem du jetzt wieder mit Jael arbeitest?“
„Ich kann es nicht abschätzen. Ich glaube, wir weisen etwas nach, was keine Materie ist.“
„Aber in einem Teilchenbeschleuniger wird doch Materie beschleunigt. Wie kann man da etwas anderes als Materie nachweisen?“
„Ich kann es nicht sagen, Lisa. Ich weiß es nicht.“
„Pass bitte gut auf dich auf, Lars.“ Lisa sieht besorgt aus.
„Es wird ein neues Abenteuer. So viel steht fest. Aber ich vertraue darauf, dass wir sicher sind, bei dem was wir tun und entdecken.“
Der Aufruf zum Boarding geht über die Lautsprecheranlage. Wir umarmen uns. Dann breche ich auf. Ich schaue noch einmal zurück. Lisa und Maurice sehen sehr schön aus.
Lisa winkt mir zu.
Und ich nicke ihr zu. Ich halte mein Handgelenk an den Scanner, und die Schranke öffnet sich. Kurz darauf betrete ich meine Swiss-Maschine.
Wir treffen uns an dem schmucklosen Gebäude, in dem sich der Fahrstuhl hinab in den Pentaquark-Ring befindet. Ich erkenne Samuel schon aus der Ferne. Er hebt die Hand zum Gruß, als er mich eintreffen sieht. „Schalom, Lars.“
„Guten Tag, Samuel.“
„Jael und Noah bringen den Quantencomputer gerade eben hinab zum Detektor. Noah wird in jedem Fall beim Quantencomputer bleiben. Und ich halte hier oben die Wacht.“
„Dann fahre ich mit dem Fahrstuhl hinab und folge den beiden.“ Ich blicke zum Himmel. Es ist ein herrlicher und sonniger Frühlingstag. Meine Augen wandern zu den Bergen. Sie sind noch mit Schnee bedeckt. Mein Blick geht zurück zu Samuel. „Heute Abend könnten wir koscher essen gehen.“
„Ja. Aber einer von uns muss beim Quantencomputer bleiben.“
„Das hatte ich nicht bedacht.“
„Wie lange werdet ihr für das Experiment brauchen?“
„Ich denke, heute Abend wissen wir mehr. Dann besprechen wir uns, Samuel. Ich fahre jetzt nach unten. Bis später.“
„Ja, Lars. Bis später.“
Die Tür des Fahrstuhls schließt sich hinter mir. Die letzten Strahlen des Tageslichts werden ausgesperrt. Das Xenonlicht im Fahrstuhl flackert kurz. Dann geht es hinab zum Ringtunnel.
Die Tür öffnet sich wieder. Am Detektor stehen Jael und Noah. „Hallo, Lars“, sagen die beiden wie im Chor.
„Hallo, Jael. Hallo, Noah.“ Ich reiche beiden die Hand.
Da steht er. Der Quantencomputer der dritten Generation. Ein kleiner matt schwarzer Würfel in der Größe meiner Faust steht auf dem Labortisch.
„Ich kann mir nicht helfen. Aber ich kann diesen Quantencomputer einfach nicht von den Tefillin unterscheiden, die einige Männer an der Klagemauer in Jerusalem trugen. Größe, Form und Farbe passen.“
Noah nickt. „Mir geht es genauso.“
Jael wendet sich mir zu. „Wie wollen wir beginnen, Lars?“
„Starte den Rechenprozess auf dem Quantencomputer. Und dann wollen wir eine neue Kollision im Pentaquark-Ring auslösen. Wir wollen sehr genau beobachten, was wir sehen.“
„Ist das nicht gefährlich? Wir könnten hier unten im Ringtunnel durch die Antigravitation wieder eine Druckwelle auslösen, wie damals am Zentrum für Nanowissenschaften in Tel Aviv. Unser Zugang zur Außenwelt könnte zusammenbrechen oder verschütten.“
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