„Ich hatte dich ja bereits in Tel Aviv kurz eingeweiht. Wir kommen mit unseren neuesten Messergebnissen nicht weiter. Die Daten im Pentaquark-Ring stellen alles, was wir bisher über die Materie vermuteten, auf den Kopf. Zugleich sind die Ergebnisse so komplex, dass wir nicht wissen, wie wir das alles verstehen und einordnen sollen.“
„Wie ich damals schon sagte – vielleicht sind eure Messergebnisse nur deshalb so komplex, weil euer Experimentalaufbau so komplex ist. Die Antwort, die man erhält, hängt von der Art zu fragen ab. Einfache Versuchsaufbauten liefern einfache Antworten. Komplexe Versuchsaufbauten liefern komplexe Antworten. Im CERN stellt ihr komplizierte Anfragen an die Natur. Und ihr bekommt daher auch schwer verständliche Antworten. So würde ich die Sache sehen.“
„Könntest du für ein oder zwei Tage nach Genf kommen? Ich würde dir gerne zeigen, womit wir es zu tun haben.“
„Da muss ich mich mit Lisa absprechen. Unser Maurice ist letzte Woche zur Welt gekommen. Ich mag Lisa im Moment nicht alleine lassen.“
„Das verstehe ich, Lars. Bitte melde dich, sobald du dich mit deiner Frau abgesprochen hast.“
Wir beenden den Call.
Lisa fragt mich „War das Jael?“
„Ja. Sie fragt, ob ich ein oder zwei Tage nach Genf kommen kann. Sie will mir etwas am Teilchenbeschleuniger vorführen. Es dreht sich um irgendein Phänomen, das sie nicht einordnen können.“
„Wenn du diese Woche noch bei mir bleiben könntest, wäre das gut. Wenn du dann weg bist, kann ja Kerstin mehr hier sein und sich um Francis kümmern.“
„Kerstin kann auch für euch kochen.“
„Ja. Das kann sie. Allerdings ist es kein Vergleich mit deinen Kochkünsten. Aber für ein oder zwei Tage werden wir es verkraften.“ Lisa lächelt mich an. „Magst du Maurice die Windel wechseln?“
„Ja. Natürlich.“
Lisa gibt mir unseren Sohn. Und dann verschwinde ich mit ihm im Badezimmer.
Wir gehen bereits in den Sinkflug. Der Grund kommt immer näher. 300 Fuß. 200 Fuß. 100 Fuß. Touchdown.
Die Crew meldet sich. „Dürfen wir sie bitten, zu ihrer eigenen Sicherheit solange angeschnallt sitzen zu bleiben, bis wir die endgültige Parkposition erreicht haben und die Anschnallzeichen über ihnen erloschen sind. Kapitän Schwyzer und seine Crew wollen sich von ihnen noch ganz herzlich verabschieden. Wir hoffen, sie hatten einen angenehmen Aufenthalt hier bei uns an Bord. Wir wünschen ihnen eine schöne Zeit in Genf, und wir sagen ‚Vielen Dank, dass sie heute unsere Gäste waren.‘ Vergewissern sie sich bitte, dass sie nichts Persönliches bei uns an Bord vergessen haben. Bis zu ihrem nächsten Flug mit Swiss. Tschüss. Servus. Und auf Wiedersehen.“
Das Anschnallzeichen erlischt. Ich verlasse meinen Sitz. Ich muss nicht zur Gepäckausgabe. Ich habe nur Handgepäck dabei. Ich bleibe ja nur kurz. Ich habe für übermorgen schon einen Rückflug reserviert. Wenn wir schneller durch sind, dann fliege ich auch morgen schon zurück. Ich mag Lisa und die Kinder nicht so lange allein lassen. Nicht jetzt.
Am Gate erwartet mich bereits Jael, Ich habe fast vergessen, wie schön sie ist. Sie ist groß, schlank und hat wundervolle schwarze Haare. Und die warme Farbe in ihren dunkelbraunen Augen nimmt mich wieder ganz in ihren Bann. Ich muss aufpassen, ich fange fast schon wieder an, zu schwärmen.
„Hallo Lars. Magst du erst etwas essen gehen, oder wollen wir gleich zum CERN?“
„Ich schlage vor, wir nehmen eine kleine Mahlzeit mit. Und eine große Thermoskanne mit Kaffee. Und dann machen wir uns gleich an die Arbeit. Ich möchte verstehen, was dich so sehr in deiner Forschung bewegt, dass du mich dazu rufst.“
Wir nehmen ein Taxi zum Haupteingang des CERN in Meyrin. Die Gebäude wirken schlicht und nüchtern. Es sieht fast ein bisschen langweilig aus. Die Architektur lässt sich mit dem Zentrum für Nanowissenschaften in Tel Aviv nicht vergleichen.
Da fällt mein Blick auf ein interessantes Gebäude, das besonders heraussticht. „Was ist das für eine Halbkugel, Jael?“
„Das ist der Wooden Dome. Hier finden Veranstaltungen und Ausstellungen statt. Wir fahren aber gleich weiter zum Pentaquark-Ring, Lars.“
Vor einem unscheinbaren, kleinen Gebäude bleiben wir stehen.
„Ist in diesem Gebäude der Pentaquark-Ring? Ich hatte es mir größer vorgestellt.“
„Der Pentaquark-Ring liegt gute zwanzig Meter unter der Erde und besteht aus einem zwanzig Kilometer langen Ringtunnel. Der Pentaquark-Ring ist etwas kleiner als der Large Hadron Collider.“
„Müssen wir unter die Erde?“
„Ja. Dieser Aufzug fährt uns nach unten. Komm, Lars.“
Wir besteigen einen Fahrstuhl. Sanft setzt er sich auf dem Weg nach unten in Bewegung.
„Ich wundere mich, dass es nicht genügt, mir die Sensorbilder von euren Experimenten zu senden, Jael.“
„Wir sehen während der Durchführung der Kollisionen etwas sehr Myteriöses auf den Sensoren, das dann aber in den Aufnahmen, die wir anfertigen, unsichtbar bleibt.“
„Und was seht ihr da?“
Inzwischen sind wir im zwanzig Meter unter der Erdoberfläche liegenden Ringtunnel angekommen. Wir verlassen den Fahrstuhl.
Jael schaltet die Lichter ein und schaut mir direkt in die Augen. Sie spricht ganz leise. „Wir sehen auf unseren Sensoren etwas wie einen Schatten. Es hat weder Masse noch Ladung.“
„Wie könnt ihr es nachweisen, wenn es weder Masse noch Ladung hat? Welche Eigenschaften hat das Phänomen dann überhaupt?“
„Sieh es dir selbst an, Lars.“
Jael schaltet das System ein. Ein leises Surren ertönt. „Ich löse jetzt eine Kollision im Teilchenbeschleuniger aus. Achte genau auf den Detektor. Es ist nur sehr kurz zu sehen. Und es gelingt uns nicht, es im Datenspeicher zu halten.“ Jael drückt einen Knopf. Ein leises Zischen ertönt.
Die Teilchenkollision erzeugt ein buntes Bild. Jael erklärt mir, was wir sehen. „Zentral ist eine rote Punktwolke. Sie ist der Ort der eigentlichen Kollision. Und hier siehst du am Rand weitere Wolken und schleifenförmige Bewegungen der Pentaquarks. Farbe und Position sagen etwas über Ladung und Masse der Teilchen.“
„Und was wolltest du mir zeigen?“
„Auf dieser Aufnahme ist es nicht mehr zu sehen. Du musst sehr konzentriert im Moment des Aufpralls auf den Detektor schauen. Im Datenspeicher bleibt das Phänomen unsichtbar.“
„Na gut. Löse noch eine Kollision aus.“
Jael drückt den Knopf. Wieder ein leises Zischen. Ich sehe etwas über den Schirm huschen. „Da war etwas. Es flog von der Mitte zum linken Rand fort.“
„Ja, Lars. Und nun zeige ich dir die Aufnahme. Siehst du? Es ist keine Spur von der Mitte zum Rand mehr sichtbar.“ Jael zeigt mir das Bild im Speicher des Detektors.
Ich schüttele den Kopf. „Kannst du es mir noch einmal vorführen?“
Jael betätigt erneut den Knopf. Zischen. Dann die Kollision. „Diesmal huschte es von der Mitte zum rechten Rand fort. Ich wundere mich, wie auf den Sensoren etwas zur Abbildung kommen kann, das keine Masse und keine Ladung hat.“
Sie schaut mich ratlos an. „Wie wollen wir weiter vorgehen?“
Ich kratze mich am rechten Ohr. „Wenn es keine Masse und keine Ladung hat, dann ist es vielleicht reine Information.“
„Aber Lars, kann Information auch unabhängig von Materie bestehen? Unabhängig von Masse und Ladung? Information braucht doch ein Trägermedium.“
„Vielleicht entdecken wir hier etwas Neues. Etwas, was unabhängig von Materie existiert.“
„Reine Information…“ murmelt Jael. „Was machen wir jetzt?“
„Lass uns mal an die frische Luft gehen. Ich kann mich hier in diesem dunklen Keller nicht konzentrieren.“
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