»Bei unserer ersten Einvernahme war er kaum der deutschen Sprache mächtig, hat unzusammenhängend vor sich hin gelallt.«
Ich seufzte. »Das kommt häufig vor.«
»Hatte Ihre Mutter Feinde? Haben Sie eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«
»Nicht das ich wüsste. Sie lebt … lebte sehr zurückgezogen. Und bei ihrer Arbeit in der Bücherei ist … war sie meist allein. Freunde und Freundinnen hatte sie nie wirklich, eigentlich gab es nur mich. Und Willi.«
»Das deckt sich mit den Aussagen Ihrer Nachbarn. Dennoch werden wir alles genau überprüfen. Die Spurensicherung untersucht gerade all die Sachen, die so halbwegs verschont geblieben sind. Sobald die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, werden wir Sie informieren. Zudem sind wir dabei, Bankdaten und etwaige Telefongespräche zu überprüfen. Was hat Ihre Mutter genau bei ihrem Anruf gesagt?«
Ich blickte auf meine Hände, bemerkte erst jetzt, dass ich sie rastlos knetete, und zwang mich, in diesem Tun innezuhalten. » Er ist wieder da. Will … will mich umbringen. Dann … dann brach die Verbindung ab. Irgendwie klingt das, als ob sie denjenigen gekannt hätte, oder?«
»Stimmt, obwohl ich lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen möchte. In einer Notsituation kann man Wörter nicht auf die Waagschale legen. Ist Ihnen, von Ihrer Seite aus, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Sie meinen, ob ich … mich jemand?« Daran hatte ich noch gar keinen Gedanken verschwendet! »Nein, nichts dergleichen.«
»Als nächste Verwandte müssen wir natürlich auch dieses Risiko im Auge behalten. Da wir das Motiv des Täters nicht kennen, halte ich es für ratsam, wenn Sie in nächster Zeit besonders gut Achtgeben und aufmerksam bleiben. Womöglich können Sie nach dem Krankenhausaufenthalt die erste Zeit bei Freunden unterschlüpfen.«
Ich schluckte.
»So, nun will ich nicht länger Ihre Zeit strapazieren. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie umgehend die Polizei an oder melden sich direkt bei mir.« Lichter schob mir eine Karte mit seinem Namen und einer Telefonnummer zu. »Ich bin jederzeit für Sie erreichbar. Oder, bei Ihnen vor Ort, können Sie sich an Gruppeninspektor Berger wenden, der über sämtliche Schritte von mir informiert wird und uns bei der Ermittlungsarbeit unterstützt.«
»Danke, bitte halten Sie mich ebenso auf dem Laufenden.« Mit zittrigen Fingern griff ich nach der Visitenkarte, die ich später in meiner Handyhülle verstauen wollte.
»Das will ich gerne tun. Übrigens, sobald Sie sich fit genug fühlen, können Sie ein Beerdigungsinstitut beauftragen. Die Untersuchungen an Ihrer Mutter sind offiziell abgeschlossen.«
Ein heiseres Schluchzen brach aus meiner Kehle. »Gut zu wissen.«
»Wir haben zudem ein Kriseninterventionsteam, das möchte ich Ihnen ans Herz legen und könnte Sie in dieser schwierigen Situation unterstützen.«
»Ich hatte bereits ein kurzes Gespräch mit der Psychologin des Krankenhauses. Weitere habe ich abgelehnt. Wenn, dann rede ich mit meiner Freundin.«
»Falls Sie es sich anders überlegen, sind wir jederzeit für Sie da. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und mein aufrichtiges Beileid.«
»Bitte, finden Sie den Mörder.«
»Wir geben unser Bestes, das verspreche ich Ihnen.«
Der Beamte ließ mich im Raum zurück. Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht in den Händen, schluchzte, weil ich sehr wohl herausgehört hatte, dass die Polizei im Dunklen tappte und nicht ansatzweise wusste, in welche Richtung sie ermitteln sollten. Die gesamte Hoffnung lag in irgendeinem Zufallsfund im Inventar. Von dem es wohl nicht mehr sonderlich viel gab.
Mara marschierte schnurstracks durch den engen Flur des Mehrparteihauses, in dem Willi wohnte. Die untere Eingangstür war unverschlossen gewesen, sodass sie nicht einmal Läuten musste. Als enge Freundin von Suni fühlte sie sich in gewisser Weise für jeden aus der Familie mitverantwortlich und hatte beschlossen, nach Willi zu sehen.
Mara erreichte den dritten und zugleich obersten Stock, klopfte an Willis Tür, neben der sich in Kartons leere Dosen und Flaschen in einem wüsten Durcheinander stapelten. Ein Namensschild suchte man vergeblich, und dort, wo die Klingel sein sollte, ragte bloß ein Stromkabel heraus. Wann war sie das letzte und einzige Mal hier gewesen? Irgendwann als Suni und sie gemeinsam die Fachschule besucht hatten, da waren sie etwa sechzehn Jahre alt. Willi war damals krank gewesen, weshalb Suni für ihn Essensbotin spielte. Dass die Freundin keinesfalls alleine hingehen wollte, verstand Mara sofort. Sie kannte Willi flüchtig von den Besuchen bei Suni, bei denen er hin und wieder auftauchte. Verlodert und meist etwas angetrunken umgab ihn eher eine abstoßende Aura, die sich in seiner winzigen Dachgeschosswohnung fortsetzte.
In Mara kroch schaudernd das damalige Entsetzen hoch, als sie an Willi dachte, der ihnen mit fiebrigen Augen und fettigem Haar torkelnd geöffnet hatte. Er war mit einer schlabbrigen Unterhose bekleidet gewesen, die drohte, an seinem schlaksigen Körper hinunterzurutschen.
Mara stöhnte und unterband den Impuls, umzukehren und ihr Vorhaben abzubrechen. Sie pochte erneut, lauter und wappnete sich darauf, dass es nach wie vor fürchterlich in der Wohnung aussehen musste. An sich war es gut, dass Willi als Letzter oben im Gebäude wohnte, so brauchte von den unten lebenden Parteien niemand an seiner Müllhalde vorbei. Doch vermutlich hatte der eine oder andere Bewohner ihn bereits verflucht, wenn er laut polternd im Vollrausch hinaufmusste.
Ihr Mann Paul hatte ihr erzählt, dass einmal sogar die Feuerwehr ausgerückt war, um ihn in seine Wohnung zu hieven. Willi war besoffen zwischen dem ersten und zweiten Stock liegengeblieben. Er war so hinüber, dass er nicht einmal realisiert hatte, dass er sich im Treppenbereich befand. Doch zum Öffnen des Reißverschlusses der Hose hatte es gereicht, und zur Begrüßung urinierte er alles voll, war ohne Scham seinem Drang nachgegangen. Wie ein Tier, dass dem Instinkt folgte.
Mara rümpfte die Nase, als ob noch immer eine Mischung aus Pisse und kaltem Rauch durch das Stiegenhaus ziehen würde. Gerade, als sie sich abwenden wollte, vernahm sie schlürfende Geräusche. Ein winziger Spalt öffnete sich.
»He, du bist ja Jasmins Freundin. Lange nicht gesehen.« Willi zeigte ein gelbliches Gebiss. An der rechten Seite prangte eine Lücke, da ihm mindestens drei Zähne fehlten.
Es waberte miefige Luft auf den Flur des Treppenhauses. Mara wechselte von der Nasen- zur Mundatmung, was sie bedeutend erträglicher fand. »Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich vorgestern bei Suni im Krankenhaus war. Sie ist halbwegs okay, die Wunden werden heilen.«
»Das ist gut. Willst du eigentlich hereinkommen?«
Mara hielt entsetzt den Atem an.
Willi lachte. »Ein Scherz!«
Mara räusperte sich, fühlte sich ertappt. »Brauchst du irgendetwas? Ich meine …«
Willi schaute sich um. Die fünfundzwanzig Quadratmeter stellten zugleich Küche, Wohn- und Schlafzimmer dar, waren vollgestellt mit Kartons. Die vielen geleerten Flaschen, die kreuz und quer lagen, müsste er irgendwann einmal entsorgen. Dazwischen stapelten sich Pappkartons von so manchen Pizzen und leere Zigarettenschachteln. Hier spielte sich sein Leben ab, zumindest dann, wenn er nicht in der Kneipe saß. Den elektrischen Herd hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt. Sein Essen bestand vorwiegend aus alkoholischer Flüssignahrung, hin und wieder aus gefundenen Resten im Müll. Einmal in der Woche konnte er sich bei Natascha den Bauch füllen. Sie hatte ihn manches Mal als gefräßiges Krokodil betitelt, weil auch diese Tiere oft von einer einzelnen Nahrung lange zehren konnten. Vielleicht war er im vorherigen Leben tatsächlich so ein Reptil gewesen, leider wuchsen bei ihm nicht die ausgefallenen Zähne nach. Er langte an die rechte Wange, fühlte, wie sich diese im Vergleich zur linken weiter hineindrücken ließ. Mit der wöchentlichen Essensration war es nun vorbei … Ob er mit seinen wenigen Kröten auskommen würde? Willi ächzte. »Alles gut. Weißt du, wann Jasmin rauskommt?«
Читать дальше