Wie war das möglich? Er hatte es doch gesehen und es schreien gehört. Und dann dieser Ruck, als wenn er über eine Gartenfigur aus Plastik gefahren und sie mit seinen Reifen brutal zerdrückt hätte. Aber da war nichts. Keine Gartenfigur und kein lebloser Körper eines Kindes. Keine Delle oder eine Schramme, die den Ruck zumindest erklären könnte.
Ich hab es gesehen. Ich bin nicht verrückt .
Langsam stand er auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und blickte sich fragend um. Er war alleine. Nervös fuhr er sich durch die Haare. Nachdem er das Heck seines Autos, sowie die Reifen ein weiteres Mal überprüft hatte, ging er kopfschüttelnd zur Fahrertür zurück. Er sollte sich besser beeilen, denn sein Wagen versperrte die Fahrbahn komplett, und er hatte heute nicht mehr die Nerven, sich deswegen mit jemandem zu streiten.
Grade, als er die Tür öffnete, strömte ihm ein beißender Geruch von Ammoniak entgegen und er verzog angewidert das Gesicht. Bevor er herausfinden konnte, woher der Gestank kam, machte er einen Satz von der Fahrertür zurück und zwang sich die Hand, vor den Mund zu pressen, um nicht schreien zu müssen. Auf dem Fahrersitz vor ihm saß das kleine Kind im pink-weißen Schlafanzug und drehte sich rasend schnell zu ihm um. Weinen konnte es zwar nicht, denn die obere Hälfte des Kopfes war vom Autoreifen zerquetscht worden, dass es nur mehr eine Landschaft aus Blut und kleinen Asphaltrückständen war, aber schreien konnte es immer noch.
„Sehen Sie hin, Doktor“, erklang eine unangenehm krächzende Stimme direkt hinter ihm. Das Baby auf dem Sitz schrie unerbittlich weiter. Sofort drehte Kris sich zu der Stimme um.
„Sehen Sie es sich an, und dann sagen Sie mir was Sie sehen“, forderte der merkwürdige Mann, den Kris im Licht der Straßenlaterne erkannte, ihn auf. Kris schluckte schwach, als er sich die Kleidung des Mannes genauer ansah. Auch er trug einen Schlafanzug, aber nicht mit pink-weißen Quer-, sondern mit blau-weißen Längsstreifen, die sich über den gesamten Pyjama hinwegzogen. Auf dem Kopf trug er eine weiße, fast durchsichtige Schlafmütze, wie der deutsche Michel, von deren Ende ein Bommel neben seinem Gesicht baumelte.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“, fragte Kris und versuchte die Angst in seiner Stimme zu verstecken.
„Sehen Sie genau hin Doktor. Sehen Sie es? Das ist ihre Zukunft. Das ist das, was Sie erwarten wird“, sagte der Mann in dem Schlafanzug unbehelligt und stierte ihn mit seinen giftig gelben Augen an.
„Was wollen Sie?“, wiederholte Kris. Das Baby plärrte ein weiteres Mal laut und jagte ihm einen Schauer nach dem Nächsten ein.
Das ist nicht real. Halluzinationen und Übermüdung. Du bist nicht verrückt. Du bist nicht verrückt.
Mit einem Male begann der Mann, dessen Gesicht von mehr Furchen durchzogen war als ein alter Baum, den Mund aufzumachen und zu einer widerwärtig grinsenden Fratze zu verziehen. Hinter ihm tauchten zwei Lichtkegel die Straße in ein strahlendes Weiß und blendeten Kris.
„Was wollen Sie?“, fragte er noch einmal laut und hielt sich schützend die Hand vor die Augen.
„Doktor?“, fragte eine ihm angenehm vertraute Stimme besorgt.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Wieso steht ihr Wagen quer auf der Straße?“
Blinzelnd öffnete er die Augen und sah Frank Lehmann, einen seiner Patienten und außerdem Polizist, vor ihm den Kopf aus der heruntergekurbelten Autoscheibe seines Opels strecken.
Scheinwerfer und keine mystischen Lichtkegel du Vollidiot. Scheinwerfer. Kein See und keine Aphrodite.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Frank weiter. Seine Hand wanderte langsam in Richtung seines Gurtverschlusses, um ihn zu öffnen, falls der Doktor Hilfe bräuchte.
„Nein ich denke ... Nein“, antwortete er desorientiert und drehte sich zu seinem Auto um. Der Fahrersitz sowie der Rest des Wagens waren vollkommen leer.
„Soll ich Sie lieber nach Hause bringen?“
Kris trat ein paar Schritte näher an sein Fahrzeug heran. Auch der beißende Geruch von Ammoniak war wie von Zauberhand verschwunden.
„Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich hätte ein Tier angefahren, aber scheinbar hat der Kater noch rechtzeitig das Weite suchen können“, versuchte er sein Verhalten und gleichzeitig auch sein auf der Fahrbahn quer geparktes Auto zu erklären.
„Hat der Kleine wohl nochmal Glück gehabt“, fügte er noch schnell hinzu und stieg in sein Auto.
„Sieht wohl so aus. Schönen Abend noch, Doktor“, entgegnete Frank.
„Ihnen auch, Herr Lehmann“, sagte er eilig, dann lenkte er das Auto gerade und fuhr unter dem skeptischen Blick des Polizisten nach Hause.
Aufgewühlt wälzte Kris sich im Bett umher. Jede Bewegung, die er machte, verursachte ein weiteres Rascheln der Bettdecke. Er war nicht mehr müde wie vorhin, als er die Praxis abgeschlossen hatte. Jetzt war er hellwach, und sein Kopf arbeitete stärker als am gesamten bisherigen Tag. Links neben ihm lag Merlin und säuselte im Schlaf vor sich hin. Er war vor wenigen Minuten in das Zimmer gekommen und hatte sich zwischen seine Eltern in das große Doppelbett gelegt. Das tat er öfter, wenn er in der Nacht von einem Alptraum wach wurde und nicht alleine sein wollte.
Kein Problem, mein Großer. Mir gehts auch nicht anders.
Grübelnd starrte Kris die Zimmerdecke an, die trotz der Dunkelheit für ihn strahlend weiß, wie ein Himmelszelt voller Sterne, über ihm hing. Inzwischen lag er schon so lange wach im Bett, dass er nahezu alles in dem Raum problemlos erkennen konnte.
Sein Kopf tat weh, aber er wollte nicht aufstehen. Es war wie das Gefühl, das man als kleines Kind hatte, wenn man nachts nicht aus dem Bett steigen wollte, weil man dachte, dass das Monster unter dem Bett hervorkommen und einen verschlingen würde. Es war die stärkste Angst, die man in seinem Leben haben konnte. Kindliche Angst. Auch als Erwachsener gab es sie, nur die Monster, vor denen man sich fürchtete, waren andere.
Er wandte sich noch ein paar Male hin und her, dann stand er nach einigem Hadern schließlich doch auf und schluckte eine Ibuflam 800 mg mit einem halben Glas Wasser. Müde und nicht gerade sanft, stellte er das Glas auf der Ablage rechts vom Hahn ab und stützte sich mit beiden Händen neben dem Becken ab. Als er merkte wie ihm fast die Augen zufielen, raffte er sich auf und ging zurück ins Schlafzimmer zu seiner Frau und seinem Sohn. Eilig zog er sich die Decke über den Oberkörper und fühlte, wie ihm direkt ein Stein vom Herzen fiel, dass er unbeschadet wieder im Bett lag. Verschwunden war seine eigenartige und ungewohnte Angst jedoch noch nicht, weswegen er näher an seinen Sohn heranrückte, um den Arm um ihn und seine Frau zu legen. Gerade, als ihn das Gefühl von Müdigkeit übermannte, war es ihm, als wenn er in der hinteren Ecke des Raumes den schwachen Umriss einer Gestalt erkennen konnte. Doch bevor er wieder wach genug war, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, schlief er ein und träumte von alten Frauen mit giftgelben Augen, die nach Schwefel stanken und Babys in gestreiften Schlafanzügen mit Roibuschtee und Globuli fütterten.
An diesem Abend und in dieser Nacht blieb es still. Keine Sirenen ertönten und keine Notrufe wurden aus Dulingen abgesetzt. Als man Diedrich am nächsten Morgen im Badezimmer fand, war es für jede Hilfe bereits zu spät.
Mit schlurfenden Schritten näherte Kris sich der Tür seiner Praxis. Diesen Morgen war es wieder soweit gewesen, dass er sich zwei Straßen weiter einen Platz suchen musste, an dem er sein Auto abstellen konnte. Seine Armbanduhr zeigte 17 Minuten nach acht an. Er hatte nach einer durchwachsenen und kurzen Nacht verschlafen und kam mit Augenringen, die aussahen, als wenn Merlin ihn mit der schwarzen Farbe aus seinem Wasserfarbkasten von Pelikan angemalt hätte, in die Praxis.
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