Sein Augenausdruck wechselte von besorgt zu stinkig. »Wir haben nur einen Alarm bekommen. Wir wussten nicht, was los ist, also komm mal wieder runter.«
Scheiße.
Er hatte recht. Das war ein wenig übertrieben gewesen.
Ich rieb mir die Stirn.
Lagen Dan und Sandro doch nicht komplett im Unrecht, wie ich es mir die ganze Zeit einzureden versuchte?
Aber womöglich war ich alleine vom harten Training überarbeitet. Jeden Tag fünf Kilometer Schwimmen und eine Stunde Klettern konnte ziemlich an die Substanz gehen.
»Sorry. Hast ja recht … Tut mir leid … Also.« Damit winkte ich der versammelten Mannschaft. »Ich bin dann mal weg.«
Und ihr habt wenigstens etwas zu tun, vervollständigte ich im Geiste und eilte zu meinem Wagen.
Zwar hatte ich die Koffer gepackt, dafür die Wäsche aufzuhängen vergessen. Fuck. Irgendetwas übersah ich andauernd. Somit in Rekordzeit das Gewand aufgehängt, welches für die nächsten Tage friedlich vor sich hin trocknen konnte. Hauptsache sämtliche Elektrogeräte waren ausgeschaltet. Einen Wohnungsbrand wollte ich nicht herbeibeschwören. Apropos Wohnung: Ich bewohnte eine von meinem Arbeitsort exakt zehn Kilometer entfernte sechzig Quadratmeterwohnung. Sie war vielleicht nicht sonderlich groß, dafür punktete sie durch eine sonnige ruhige Lage und freundliche Mieter sowie einen Gratisparkplatz und ein großes Kellerabteil.
Was wollte ich noch?
Ja, genau!
Essen.
Ich griff nach der durchsichtigen mit Eierreis gefüllten Plastikbox, welche ich mir von meinem Lieblingschinesen mitgenommen hatte, und öffnete diese.
Ein köstlicher Geruch von Sojasoße, Hühnerfleisch und Ei wehte mir entgegen. Geschickt brach ich die Holzstäbchen auseinander und begann zu essen.
Es gab kein chinesisches Gericht, das ich ohne Stäbchen aß.
Weshalb?
Aus Prinzip. Und um die eigene Komfortzone stets aufs Neue zu durchbrechen.
Immerhin konnte man – und sollte man auch – ab und zu etwas nicht auf die übliche Weise tun. Das Leben war langweilig genug. Da vermochten ein paar kleine Besonderheiten, wie Stäbchenessen, das Geschirr mit der nicht dominanten Hand abschrubben oder alle drei Monate einen unbekannten Ort besuchen, den Alltag kräftig aufzuwerten. Darüber hinaus erweiterte man seinen Horizont und behielt seine Flexibilität.
Andererseits konnte diese Macke genauso gut durch mein Singledasein entstanden sein.
Ich trank einen Schluck Orangensaft.
Tatsache war: Es gab niemanden, mit dem ich meine Freizeit verbringen durfte. Daher blieb mir gar nichts anderes übrig, als mir ständig neue Freizeitbeschäftigungen auszudenken, zumal mich die meisten meiner Hobbys schnell langweilten: Laufen – obgleich hier ebenso mein gesundheitlicher Aspekt, schmerzende Knie und Fußgelenke, eine Rolle gespielt hatte – Fahrradfahren, Kochen, Basteln, Malen, Stricken.
Stricken!
Wie ich auf diesen Schwachsinn gekommen war, entzog sich meiner Kenntnis.
Das Fotografieren wiederum hatte ich beibehalten.
Da das Ausdauertraining, Schießtraining und die Selbstverteidigung übermäßig viel Zeit in Anspruch nahmen, blieb aber ohnehin keine Zeit für weitere Interessen.
Nun, ich hatte mich für dieses Leben entschieden, und es bislang keine einzige Sekunde bereut. Da durften die einsamen Stunden nicht wirklich schwer wiegen.
Nachdem ich den Reis verschlungen hatte, wusch ich das Glas ab, trocknete die Spüle, duschte mich und packte den restlichen Kram ein. Für den insgesamt dreizehnstündigen Flug zog ich mir eine schwarze Anzughose und ein schwarzes Hemd an. Dazu schwarze flache Schuhe. Meine rückenlangen braunen Haare ließ ich offen. Es tat gut, einmal ohne strengen Dutt herumzulaufen.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann verließ ich die Wohnung.
Um 18:00 Uhr erreichte ich den Klagenfurter Flughafen, um 18:35 hoben wir ab und um 19:25 landeten wir ohne Komplikationen in Wien.
Ich nahm das rege Treiben in der großen Halle des Flughafens in Augenschein.
Dutzende Geschäftsmänner schritten geschäftig von einem Terminal zum nächsten. Ausländer schauten sich verwirrt um. Einige Pärchen, deren weibliche Hälften mir giftige Blicke zuwarfen, eilten an mir vorbei Richtung Ausgang.
Welch wundervolle Begrüßung.
Wien.
Erst einmal hatte ich unserer Hauptstadt einen Besuch abgestattet.
Damals war ich durch die Aufnahmeprüfung der Cobra gerasselt. Demgemäß wenig Lust hatte ich empfunden, länger zu bleiben und irgendwelche Touristenattraktionen alleine und von Pärchen umzingelt anzugaffen sowie von ebendiesen glücklich liierten Idioten angegafft zu werden.
Neidig-gefrustete Blicke von mich musternden Weibern standen an oberster Stelle meiner »Das-halte-ich-beim-besten-Willen-nicht-aus-Liste«. Wie eben erlebt. Noch viel bescheuerter wurde es jedoch, wenn solche Zicken meine Musterung abgeschlossen hatten und daraufhin ihren Lebensgefährten an sich zogen, um diesen einen stürmischen Kuss zu verpassen. In der Art: »Der gehört mir. Such dir einen eigenen Freund.«
Als ob mich solche Schlappschwänze interessierten!
Männer mit derart komplexbehafteten Weibern an ihrer Seite waren meiner Meinung nach ohnehin nicht ganz dicht und daher beziehungsuntauglich.
Nun, was soll’s.
Wer sagte denn, Leute würden vernünftige und anständige Individuen darstellen?
Ich jedenfalls nicht …
Der zweite Flug startete um 21:45. Genügend Zeit, um sich einen letzten österreichischen Kakao zu gönnen.
Während ich die hektische Szenerie durchquerte, hielt ich nach einem Lokal Ausschau.
Ein braunes Schild, auf dem in geschwungenen weißen Buchstaben »Café« geschrieben worden war, lenkte meine Schritte in die linke Richtung.
Mein Handy vibrierte.
Wahrscheinlich war das diese bescheuerte Facebook-App, die mir sagen wollte, ich hätte viel mehr Freunde auf Facebook, als ich dachte.
Leicht genervt zog ich das Smartphone hervor – da wurde ich angerempelt.
Taschendieb, war mein erster Gedanke.
Sofort brachte ich mich in eine Art Kampfstellung: Trolley losgelassen, den Griff um die Handtasche verstärkt, den Großteil meiner Aufmerksamkeit auf den Rempler gerichtet. Den Rest meiner Konzentration benutzte ich, um die mich umgebende Szenerie zu beobachten.
Taschendiebe arbeiteten oft im Team. Eine Unachtsamkeit und Trolley oder in Hosentaschen steckende Portemonnaies gehörten für immer der Vergangenheit an.
Der vermeintliche Kriminelle, ein Mann mit leicht zurück gegelten dunklen Haaren und einer Sonnenbrille auf der Nase, war jedoch längst dabei, unbeeindruckt an mir vorüber zu schreiten.
Und meine Synapsen feuerten.
Weshalb trug dieser Idiot eine Sonnenbrille bei Nacht? Warum zeigte er dieses übertrieben verschmitzte Macho-Gelächle? War er solchermaßen in Gedanken vertieft oder war die Aktion Absicht gewesen?
Und sofern Letzteres zutraf, was wollte dieser dunkelhaarige Johnny Bravo damit bezwecken?
»Sorry, Kleine«, kam es mit satter tiefer Stimme salopp wie selbstbewusst über seine Lippen. Seine Schrittgeschwindigkeit verlangsamte er nur geringfügig.
Obgleich ich Johnnys Augen nicht erkennen konnte, hatte ich das Gefühl, er würde mir bis in die tiefsten Winkel meiner Seele blicken.
Unauffällig und in sekundenschnelle nahm ich seine überraschend große und maskuline Statur in Augenschein. Er trug ein dunkles Hemd, darüber eine kurze Lederjacke und eine hautenge Jeans, der es nicht einmal im Ansatz gelang, seine muskulösen Beine zu verstecken. Schwarze Lederstiefel rundeten sein lässiges Outfit ab. Die selbstbewusste Körperhaltung, das unverbindliche Grinsen und der gepflegte kurz geschnittene zarte Bart, welcher seine leicht kantigen Gesichtskonturen ungleich stärker zur Geltung brachte, verliehen ihm eine schwer zu ignorierende Ausstrahlung.
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