„Danke.“ Obermüller nickte. „Wie war es bei den Eltern?“
„Die waren vorher schon fix und fertig, aber ich schätze, der Tod der Tochter wird sie endgültig erledigen“, fasste Franziska zusammen. „Und wissen tun sie auch nichts. Vanessa scheint sich sehr intensiv abgenabelt zu haben.“
„Eigentlich traurig, oder? Da ziehst du dir ein Kind groß und dann bist du doch allein.“
„Hey, Obermüller, nicht so sentimental. Bei dir wird das alles mal ganz anders, du bist ein toller Vater, ich würde dich sofort nehmen.“ Sie lächelte ihn frech an.
„Danke für die Blumen, aber sooo alt bin ich dann auch noch nicht.“
„Warum seid ihr denn eigentlich schon zurück? Hat der Chef nicht gesagt, dass ihr alle befragen sollt?“
Obermüller lachte. „Wir machen das jetzt per Rund-Mail. Wir haben alle angeschrieben, die in der Gruppe sind und auf der Liste stehen und um Rückmeldung und Hinweise gebeten. Die, die sich nicht melden, werden persönlich überprüft.“
„Und?“
„Bisher nichts wirklich Brauchbares.“
„Das kann doch nicht sein. Da wird ein so hübsches Mädchen derart bestialisch ermordet und niemand weiß etwas?“
„Vielleicht sind die eben auch alle zu geschockt“, versuchte es Obermüller mit einer lahmen Erklärung.
„So ein Blödsinn. In dem Alter hält man sich noch für unverwundbar“, wusste Franziska und schielte auf Vanessas Kursplan. „In einer halben Stunde beginnt eine Vorlesung mit Scheinpflicht“, las sie vor, und bevor einer der beiden Kollegen etwas antworten konnte, entschied sie: „Da fahren wir doch mal hin und konfrontieren die Kommilitonen mit Fotos der toten Vanessa. Vielleicht fällt denen dann doch ein, mit wem sie häufiger zusammen war.“
Sie schob die Brotbox zu Hannes hinüber, trank den letzten lauwarmen Schluck ihres Tees und erhob sich. „Nimm unser Lunchpaket mit, vielleicht brauchen wir später noch etwas zur Stärkung.“
Obermüller grinste über ihren Eifer. Der Schock und das anfängliche Entsetzen hatten dem professionellen Wunsch Platz gemacht, den Täter zu finden und damit der Bevölkerung wieder das Gefühl einer ungetrübten Sicherheit zu geben. Etwas anderes konnten sie sich in ihrem Job auch gar nicht leisten.
Zwar gehörte Franziska zu den beneidenswerten Frauen, die praktisch alles tragen konnten und zu fast jeder Zeit und in jeder Lage gut aussahen, doch das war nur äußerlich. In ihrem Inneren spürte sie sehr wohl die biologische Uhr ticken. Und die sagte ihr mit jedem Schlag zur vollen Stunde: Alles ist vergänglich. Was im Hinblick auf die vielen jungen Studentinnen, denen sie gleich begegnen würde, natürlich erst recht ins Gewicht fiel.
Daher machte sie, kurz bevor sie zur Uni aufbrachen, noch einen Abstecher zu den Toilettenräumen, um sich ein wenig aufzuhübschen. Was sich wenig später als unnötig herausstellte, denn als sie Hannes abholen wollte, empfing der sie mit einer überraschenden Nachricht.
„Wir haben eine Zeugin!“
„Was?“ Franziska warf einen schnellen Blick auf ihre Uhr. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits die Möglichkeit, eine sich freiwillig meldende Zeugin zu befragen, andererseits die Gelegenheit, ein wenig Uni-Luft zu schnuppern und viele potentielle Zeugen aufzutun. „Wer ist es?“
„Stephanie Mittermaier, die beste Freundin von Vanessa Auerbach.“
„Wow!“ Ohne zu zögern war Franziskas Entscheidung gefallen. „Wo ist sie und weiß sie, was passiert ist?“
„Ja. Frau Mittermaier sitzt im Besprechungszimmer und wirkt“, Hannes sah ein wenig ratlos drein, „ziemlich gefasst!“ Davon konnte sich Franziska gleich darauf persönlich überzeugen.
„Hallo, ich bin Steffi, ich habe gehört, dass Sie jemand suchen, der Vanessa gut gekannt hat.“ Die junge Frau, die einen ziemlich unfrisierten kupferroten Kurzhaarschnitt und ein sackartiges Batikkleid trug, blickte von Hannes zu Franziska und dann auf einen Umschlag, den sie mitgebracht hatte.
„Und Sie kannten Vanessa Auerbach gut ?“, fragte Franziska, die sich über den munteren Ton wunderte.
„Wir sind sozusagen die allerbesten Freundinnen!“ Ohne aufzublicken entnahm sie dem Umschlag ein Foto und schob es den Kommissaren über den Tisch zu. „Das war immer unser Lieblingsbild.“
Franziska zog das Foto zu sich heran und starrte es eine Weile an. Es zeigte zwei junge Frauen, die sich lachend umarmten. Die eine kupferrot, die andere blond.
„Dann wissen Sie ja sicher auch, wer der Freund Ihrer Freundin war?“, fragte Franziska und blickte die Zeugin eindringlich an.
„Vanessa konnte jeden haben, und sie konnte sich nicht entscheiden.“ Steffi lächelte einen Moment. „Sie sagte immer, das Leben ist zu kurz, um sich jetzt schon festzulegen.“
„Aha!“ Franziska versuchte ihre Verwunderung zu verbergen. „Und wie lief dieses Jeden-haben-können so ab?“, fragte sie leichthin.
„Ich glaube, sie verliebte sich einfach nicht. Sie traf sich mal mit dem einen und mal mit dem anderen, aber bevor es ernst werden konnte, hatte sie schon den nächsten.“ Stephanie Mittermeier zuckte gleichgültig mit den Schultern, als wäre das auch ihre Philosophie in Punkto Männer.
Wieder nickte die Kommissarin und warf ihrem Kollegen einen unsicheren Blick zu. „Gehts auch ein bisschen genauer?“, fragte der, woraufhin die Zeugin zum ersten Mal zu bemerken schien, dass ein Mann im Raum war. Nachdenklich schaute sie ihn an, sagte aber nichts. „Mit wem war sie am Wochenende verabredet?“, hakte Hannes nach.
„Tut mir leid, das weiß ich nicht, sie war da sehr spontan.“ Steffi schenkte Hannes einen Unschuldsblick aus kajalumrandeten Augen.
„Ihre beste Freundin ist tot“, betonte Franziska mit geduldiger Stimme, die ihre Verwunderung über das Auftreten der Studentin gut verbarg. „Sie wurde von einem Mann brutal misshandelt. Er hat sie gefesselt, geschlagen und getreten. Können Sie sich vorstellen, welcher dieser Freunde, mit denen sie spontan zusammenkam, so etwas mit ihr getan haben könnte?“
Damit ging Franziska ziemlich weit, doch tatsächlich zeigte ihre drastische Schilderung ein wenig Wirkung. Die Zeugin starrte sie entsetzt an und brach wie auf Kommando in Tränen aus. „O mein Gott, das ist ja furchtbar.“ Hannes warf seiner Kollegin einen scharfen Blick zu. „Das habe ich nicht gewusst. Ich dachte, sie wurde nur …“
„Vergewaltigt“, half Franziska verwundert aus.
„Ja! Ja, und das ist doch irgendwie immer auch ein wenig romantisch, oder?“ Steffi schniefte heftig auf, suchte in ihrer großen Tasche nach einem Taschentuch und schien wieder sehr gefasst. „Ich meine, das ist doch ein Zeichen, dass ein Mann einen wirklich haben möchte. Vielleicht kann er es nicht zeigen, kann nicht so gut reden oder weiß nicht, wie er es anfangen soll und dann nimmt er sie und zeigt ihr, dass er sie und nur sie haben möchte.“
Steffis Augen leuchteten unter einem feinen Tränenfilm. Franziska musterte sie eine Weile, doch kein Anzeichen verriet, dass die junge Dame bluffte.
Stephanie Mittermaier war, abgesehen von ihren Haaren, eine eher blasse Erscheinung, eine Frau, die auf Männer sicher nicht die Wirkung hatte, die sie ihrer Freundin zuschrieb. Und sie hatte bestimmt auch nicht deren Auswahlmöglichkeiten. Eine, die eher in die Gattung Mauerblümchen und Jungfrau ohne Erfahrung passte. Sie war Vanessa sicher keine ebenbürtige Freundin gewesen, keine, mit der man sich messen konnte, hatte ihr dafür aber vielleicht bedingungslos die Treue gehalten. Sie ist eine, bei deren Anblick man sich immer besser fühlt als man eigentlich ist, dachte Franziska. Und bekam bei dieser Einschätzung direkt ein schlechtes Gewissen.
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