Ohnmächtig zappe ich durch die Kanäle. Auf ITV läuft die millionste Wiederholung von "Der Tag, an dem die Erde stillstand". Mein Lieblingsfilm mit Michael Rennie und Patricia Neal in den Hauptrollen. Ohne hinzuschauen, kann ich Klaatu auswendig zitieren.
»Ihre Wahl ist einfach, entweder Sie leben in Frieden mit uns oder riskieren Ihren Untergang. Die Entscheidung ist Ihnen überlassen.«
Fünfzig Jahre sind seit jenen Worten verstrichen, ihre stille Mahnung ist in den Schreien der heute gestorbenen Menschen untergegangen.
»Thomas! Darling! Post für dich. Ein Einschreiben. Kommst du bitte runter?«
Tante Daisys Ruf reißt mich aus dem Schlaf, für wenige Sekunden bin ich desorientiert. Durch meinen Kopf stampft eine Horde brunftiger Elefanten, der Kopfschmerz ist nicht ohne. Katee stöhnt und vergräbt sich unter ihrer Decke.
Feige wie ich bin, habe ich meiner Familie nichts über das Verhör und das vorausgegangene Besäufnis erzählt. Es war pures Glück, dass meine Peiniger sich zunächst auf mich konzentriert und meine Familie verschont haben. Tante Daisys Herz ist krank und hätte das Verhör nicht überlebt. Mit einer mir peinlichen Notlüge habe ich mich aus der Affäre gezogen, den müden Reisenden gemimt, der von den neuen, anschlagsbedingten Einreisebefragungen ausgezehrt ist. Mehr im Schlaf als im wachen Zustand ziehe ich mir Hemd und Hose über und stakse die Treppe zur Haustür herunter. Mein Blick fällt auf die alte Standuhr, es ist später Vormittag.
Tante Daisy steht in der Tür und hält das übliche Schwätzchen mit Mr Miller, unserem Postboten. Klar, New York ist auch hier das vorherrschende Thema. Mich gruselt vor dem Moment, wenn meine Tante erfährt, dass ihr kleiner, süßer Tommy den Terroristen ihre ersten und letzten Drinks spendiert hat.
»Ah, der junge Mr Jennings!«, ruft Mr Miller und kramt geschäftig in seiner großen Tasche, zieht einen Brief heraus und reicht ihn mir samt einem Quittungsbuch und Kugelschreiber. »Wenn Sie noch die Güte haben, mir kurz den Empfang zu bestätigen?«
Ich kritzele mein übliches XY in das Buch, grüße kurz und verschwinde mit dem Brief in der Diele. Argwöhnisch mustere ich den Umschlag. Merkwürdig, kein Absender. Mit einem lauten Ratsch reiße ich ihn auf und setze mich auf den Treppenabsatz. In meinen Händen liegt ein Brief des Verteidigungsministers.
Ministry of Defence
Whitehall, 11. September 2001
Ehrenwerter Mr Jennings,
im Auftrag Ihrer Königlichen Majestät erlaube ich mir, Ihnen unser Bedauern über die heutigen Unannehmlichkeiten auszusprechen. Ferner möchte ich Sie bitten, für eine Zeugenaussage in meinem Hause am 12. September 2001 zur Verfügung zu stehen.
Hochachtungsvoll
(unleserlich)
Der Brief fliegt hinter die Standuhr, ich eile ins Bett zurück. Katee ist wach und geht ihren allmorgendlichen Hatha Yoga Übungen nach. Ihr Nachthemd zeigt mehr als es verbergen kann, betont ihre Figur und lässt mich an angenehmere Dinge denken, als mich einer erneuten Befragung auszusetzen. Ich kuschele mich an meinen kleinen Liebling und schweige.
Katee ist ein Waisenkind. Beherzte Menschen hatten sie in einer Mülltonne gefunden und ins Great Ormond Street Hospital für kranke Kinder gebracht. Dort wurde Katee versorgt und später zur Adoption freigegeben. Das kinderlose Ehepaar Judith und Kenneth Shaw verliebte sich in das kleine Mädchen und gaben dem Drama ein menschenwürdiges Happy End.
»Ach, Sternenprinz!«, seufzt Katee mit einem fragenden Blick. »So kenne ich dich ja nicht. Willst du mir nicht sagen, was in dem Brief steht?«
Mein Mobiltelefon surrt leise. Mit Glück wartet am anderen Ende der Leitung das Ministerium und erspart mir eine weitere Lüge.
»Jennings. Wer stört mich da?«
»Mr Jennings!«, brummt mein Dekan aus der Muschel und lässt mich meine Respektlosigkeit dem Ministerium gegenüber vergessen. »Ich darf doch um ein Mindestmaß an Manieren bitten! Wir sind hier nicht in Cambridge.«
»Oh, ähm. Ja. Herr Dekan? Mr Honourtree! Entschuldigen Sie bitte, ich hatte jemand anderes erwartet«, nuschele ich in das Telefon und versuche, auf Etikette umzuschalten. Oxford University? Sicherlich nicht ohne Grund. Mir schwant Böses.
»Mr Jennings, es ist meine traurige Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass unsere altehrwürdige Universität gegen Sie einen Antrag auf Exmatrikulation eröffnen wird. Mit Leuten wie Ihnen haben wir nichts gemein. Guten Tag.«
Honourtree kappt die Verbindung. Ich blicke stumm in Katees geweitete Augen.
»Oxford schmeißt dich raus? Warum denn?«
Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, klingelt es erneut.
»Hallo?«, flüstere ich kleinlaut und schließe die Augen.
»Mein Name tut nichts zur Sache. Sie haben mein Schreiben bekommen?«
Das Ministerium. Gott sei Dank.
»Kam gerade.«
»Gut. Haben Sie rein zufällig auch schon den heutigen Morning Scandal gelesen?«
Meine Lippen formen einen lautlosen Schrei. Ich werfe das Telefon achtlos in die Kissen und sprinte zum Zeitungshändler.
Morning Scandal
Mittwoch, 12. September 2001
Terroranschlag auf Buckingham Palace vereitelt?
Starreporterin Sue Bellatreccia landete gestern in London Heathrow. Bevor sie von Bord gehen konnte, stürmten Sicherheitskräfte die Maschine, misshandelten unser liebreizendes Baby und verhafteten einen Islamisten.
»Er hatte einen fanatischen Blick. Richtig unheimlich«, kann unsere berühmte Sue eine Stewardess aus East Croydon zitieren. Sue weiß weiterhin zu berichten, dass der Mann einen Anschlag auf den Palast Ihrer Majestät geplant haben soll, ein Unterfangen, das durch unsere Eliteeinheit SAS vereitelt wurde.
Todesmutig hat Sue die Spur des Terroristen bis nach Thornton Heath verfolgt. Nach bislang unbestätigten Aussagen der Nachbarn ist Thomas Jennings, in islamischen Kreisen als Khirash bekannt, von Kindesbeinen an psychisch gestört. Sue Bellatreccia wird nicht eher ruhen, bis Jennings hinter Gittern sitzt und Whitehall sich für die Misshandlungen entschuldigt hat.
Der Morning Scandal ist journalistisches Toilettenpapier erster Sahne. Kein gesunder Mensch gibt zu, das Klatschblatt zu kennen, dennoch erfreut es sich unter pseudointelligenten Mobbern und bei sensationsgeilen Kaffeekränzchen großer Beliebtheit. Sprich, bei Leuten wie meinem Dekan und meiner Tante. Statt den Zeitungsjungen präventiv mit meiner Steinschleuder zu erlegen, habe ich mit meinem übereilten Sprint Tante Daisy genügend Zeit verschafft, ihren abonnierten Müll zu lesen.
»Thomas Kyle Jennings!«, kreischt sie, als ich das Gartentor erreiche. »Sofort hierher!«
Meine Tante ist von der Rolle und schlägt mir die Zeitung ins Gesicht. Ein Werbeprospekt des neuen Tuntenkinos in South Norwood segelt zu Boden.
»Was hat das hier zu bedeuten?«
Meint sie Bellatreccias Lügen oder die Damen mit dem gewissen Extra zwischen ihren epilierten Beinen? Ich erspare mir jeden Humor und lasse den Kopf hängen. Mein Kartenhaus aus Lügen bricht über mir zusammen. In kurzen, verständlichen Worten berichte ich über mein Erlebnis und bete, Tante Daisy würde ihren Verstand gebrauchen. Zwecklos. Ohne Vorwarnung schlägt sie zu, in meiner Nase platzen die Äderchen und Blut spritzt auf ihre blütenweiße Bluse.
Mit nie vermuteter Wucht stoße ich Daisy zu Boden, springe über sie hinweg und renne die Treppe hoch ins Badezimmer. Ich heule wie ein Schlosshund und wasche mir das Blut aus dem kreideweißen Gesicht. Ich blicke in den Spiegel. Schulterlanges, dunkelblondes Haar, leicht schräg angelegte, graublaue Augen, eine normal proportionierte Nase und meine zu groß geratene Klappe starren zurück. Weiße Blitze zucken in meiner Wahrnehmung, mein nächster epileptischer Anfall ist nur eine Frage der Zeit. Ich nehme die Pillendose, öffne sie mit zittrigen Fingern und schlucke die letzten zwei Tabletten trocken herunter. Mit einem Seufzer des Selbstbedauerns sacke ich vor der Badewanne zusammen und warte auf den Anfall. Nein, ich habe Glück im Unglück. Ein Anfall fühlt sich anders an. Ich hole tief Luft, öffne die Augen und presse meinen Nacken gegen den kühlen Rand der Wanne. Der Schmerz ebbt ab und ich finde langsam zur mir. Ich lasse ein paar Minuten verstreichen und schleiche mit butterweichen Beinen ins Schlafzimmer. Dort ziehe ich mir ein sauberes T-Shirt über und taumele die Treppe herunter. Zwei Soldaten stehen in der offenen Tür und reden auf Daisy ein. Der Minister hat sie geschickt, um mich vor einem möglichen Lynchmob zu schützen und um mich zur Aussage nach Whitehall abzuholen. Daisy schaut mich bedrückt an, vermeidet den direkten Blickkontakt. Es quält sie, mich erneut geschlagen zu haben.
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