Als ich am nächsten Morgen nach einer schlaflosen Nacht ins Bad ging, sah ich mit Entsetzen das Ergebnis des nächtlichen Überfalls. Ein blaues Auge, kaputte Schläfe, dicke Nase. Auch auf Brust und Bauch, alles blau und es schmerzte bei jeder Bewegung. Was sollte ich denn nun im Hotel sagen was passiert ist? Mit der Wahrheit komme ich nicht weit, dass hatte er mir auch gesagt. Dann würde es wieder Prügel setzen.
In den folgenden Tagen wurde ich von Angst begleitet. Jedes mal wenn ich in die Hotelküche kam erntete ich böse und bedrohliche Blicke von diesem Schläger. Doch lange hielt ich das nicht aus. Ich vertraute mich einem Kollegen im Service an, der den Typen gut kannte und wusste, dass er bei jeder Gelegenheit seine Brutalität auslebte. Glaubt mir, ich bereute schon, dass ich das erzählt hatte und meine Angst, dem Typen außerhalb des Hotels zu begegnen wurde dadurch nicht kleiner.
Mein letzter Ausweg war, ich musste es meinen Eltern erzählen. Da hättet ihr mal meinen Vater hören sollen.
"Ich habe es dir gleich gesagt, geh weiter zur Schule! Du hättest bei uns wohnen bleiben können. Hast du jetzt davon, dass du deinen Kopf durchsetzen musstest. Ich habe dir gleich gesagt, das geht daneben."
Den letzten Satz habe ich mein ganzes Leben, immer und immer wieder von meinem Vater zu hören bekommen. Dann durfte ich mir immer gleich anhören, was in meinem Leben, in seinen Augen noch alles daneben gegangen war. Zumindest hatte ich mich verhalten, wie es mir anerzogen wurde und weil ich ein braver Junge war und auf meine Eltern hörte, habe ich mich nicht geprügelt, habe ich einen anderen Menschen nicht geschlagen und somit auch nicht weh getan. Kommt euch das gerade bekannt vor?
Letztendlich haben mir meine Eltern dann doch geholfen. Die Hoteldirektion wurde hinzugezogen, eine Anzeige bei der Polizei wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung kamen hinzu. Als das der Hoteldirektor mitbekommen hatte, wurden meine Eltern und ich zu einem Gespräch in sein Büro geladen. Ich solle doch die Anzeige zurück ziehen, der junge Mann käme aus schwierigen Verhältnissen. Er hätte schon mehrere Anzeigen im polizeilichen Führungszeugnis wegen Körperverletzung und nach mehreren abgebrochenen Ausbildungen wäre das hier jetzt seine letzte Chance. Wenn wir die Anzeige nicht zurück ziehen würden, müsste er seinen Ausbildungsvertrag kündigen und der junge Mann säße auf der Straße. Wir könnten dem Mann doch seine Zukunft nicht verbauen wollen.
Das lasst mal auf euch wirken! Ich bin dann Schuld, dass aus dem Typen nichts mehr wird? Ah ja! Und was ist mit mir?
Jedenfalls haben wir, oder meine Eltern, des lieben Friedens Willen beschlossen, die Anzeige zurück zu nehmen um dem guten Mann eine letzte Chance für seine Berufsausbildung zu geben, damit er noch etwas aus seinem Leben machen konnte.
Was nun für jeden klar sein dürfte, ich konnte unmöglich dort bleiben, um mich weiter ausbilden zu lassen. Wie sollte das denn auch funktionieren? Wenn Mr. Brutalo was nicht passte, hätte er nun den Freibrief gehabt, mich zu verprügeln. Und weil ich ihm, von der Hoteldirektion angewiesen, nicht sein Leben verbauen könne, käme er jedes Mal durch?
Letztendlich habe ich im Dezember meinen zweiten Ausbildungsplatz angefangen. Von da an wurde alles anders, wurde alles besser.
An meinem neuen Ausbildungsplatz wurde ich vom ersten Tag an gut aufgenommen. Ich wurde akzeptiert, mit einbezogen wenn es nach Feierabend ums ausgehen ging und hatte mich recht schnell eingelebt. Was nicht zuletzt daran lag, dass meine Mutter Connection zu den richtigen Leuten hatte und die wiederum die richtigen Leute geimpft bzw. von meiner bösen Erfahrung erzählt hatten. Aber was soll's. Ich war nach der Prügelei in der eigenen Wohnung (wieder ein Trauma?) noch ruhiger als vorher geworden und sobald ich einen Koch in seiner weißen Uniform sah, stieg mir innerlich die Panik auf. Bis ich alle Köche kennen gelernt und Vertrauen aufgebaut hatte, vergingen Wochen.
Ich hatte mich also recht schnell eingelebt. Da ich von uns Auszubildenden eins von den beiden größeren Personalzimmern hatte, trafen wir uns oft bei mir. Ein Fernseher, eine kleine alte Theke und ein großer Kühlschrank, stetig gefüllt mit Getränken und aus jeder gemütlichen Runde wurde eine kleine Party.
Mit der Zeit wurde ich immer selbstsicherer und selbstbewusster. Aus dem ruhigen, verängstigten "ich" wurde ein Partyclown, der Kollegen und Freunde zum Lachen bringen und unterhalten konnte. Ich fühlte mich zum ersten Mal frei.
Ich verdiente mir meine ersten Sporen bei der Arbeit und hatte Spaß dabei. Brav befolgte ich von Anfang an die Anweisungen meines Ausbilders und meiner Vorgesetzten. Immer diszipliniert und zu ihrer Zufriedenheit. Ich erfüllte die Wünsche der Gäste, brachte Ihnen was bestellt wurde und es war jedes Mal eine Show, wenn ich filetierte, tranchierte oder flambierte. Von Ausbilder und Vorgesetzten kamen Lob und Anerkennung, von den Gästen gab es obendrein noch anständig Trinkgeld.
Stopp!
Habt ihr es auch bemerkt? Mir ist es irgendwann während der Arbeit selbst aufgefallen. Jede Arbeitsanweisung, die Wünsche der Gäste, alles habe ich akribisch, hoch diszipliniert und konzentriert erledigt. Immer so, dass es keinen Grund dafür gab, mich zu tadeln. Immer so, dass ich besondere Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung bekam. Ich habe mich einfach so verhalten, wie als Kind und Jugendlicher Zuhause, als ich noch bei meinen Eltern gewohnt hatte. Nur, dass ich mir immer selbst gesagt hatte, dass ich hier keine Schläge bekomme, aber Ärger, verbale Bestrafung, angeschrien zu werden, das wollte ich natürlich auch nicht mehr.
Da habe ich mein mir antrainiertes Verhalten aus meiner Kindheit einfach ganz unbewusst mitgenommen. Und das, weil ich Angst vor Strafe hatte, wenn ich etwas nicht richtig gemacht hätte. Und die Angst vor Konfrontation. Schon im Elterlichen Haushalt bin ich jeder Konfrontation möglichst aus dem Weg gegangen. Die konnte ich nicht gewinnen. So hatte ich auch nie gelernt, dass Konfrontationen nicht immer zu einer Niederlage führen mussten. Denn hätte ich das gelernt, sähe ich diese als Chance, meinen Standpunkt zu vertreten und somit vielleicht sogar meinen Gegenüber von meiner Meinung zu überzeugen oder zu begeistern. Aus Angst davor hatte ich mich nur nie gestellt.
Die Zusammenhänge zwischen Kindheit, Erziehung und erwachsen werden, auf eigenen Beinen stehen müssen, werden langsam klarer und greifbarer. Ich mache, was du erwartest und schon habe ich meine Ruhe. Ich bekomme vielleicht kein Lob, keine Anerkennung, aber ich werde nicht bestraft. Und damit stehe ich gut dar. Zumindest hatte ich das zu der Zeit immer geglaubt.
Nach drei Jahren Ausbildung schloss ich die Prüfung zum Restaurantfachmann ab. Ich glaube, dass meine Eltern da stolz auf mich sein konnten. Zumindest hatten sie sich für mich gefreut und kamen zur Entlassungsfeier. Der Hoteldirektor lud alle Eltern der bestehenden Prüflinge zu einem festlichen Abendessen in den Clubraum des Hotels ein. Wir frischen Gesellen fanden es recht lustig wie unsere Eltern versuchten, sich mit den vielen Bestecken und Gläsern anzufreunden, die eingedeckt waren. Die meisten von ihnen hatten an diesem Abend wohl das erste Mal ein mehrgängiges Menü in einem Hotel serviert bekommen. Meine Eltern waren sichtlich von diesem Tag und sicher auch vom Menüablauf begeistert.
Ich arbeitete ein weiteres Jahr als Geselle im gleichen Hotel. Danach war ich in Süddeutschland in verschiedenen First Class Hotels tätig, in denen ich an meiner Karriere feilte.
"Ihr merkt, dass ich immer noch alles zur Zufriedenheit anderer machte und jede Sprosse auf der Karriereleiter nicht nur Ergebnis meiner fachlichen Kompetenz, sondern immer auch Zuwendung, Anerkennung, Aufmerksamkeit und Lob für mich waren. Man könnte sogar sagen, ich bettelte regelrecht nach Liebe und Anerkennung."
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