Mein Handy reißt mich aus diesen unerfreulichen Gedanken.
»D’Vergy«, melde ich mich kurz angebunden, immerhin haben wir Sonntag.
»Dir auch einen schönen guten Tag, Vico.«
»Dad!« Ich kneife mir mit zwei Fingern in den Nasenrücken. »Entschuldige bitte. Aber …«
»Du arbeitest«, sagt er vorwurfsvoll.
»Ich bin noch keine Woche hier«, erkläre ich. »Ich muss mich in die offenen Fälle einarbeiten.«
Ich rechne es meinem Dad hoch an, dass er nicht erwähnt, dass mir schon seit Längerem ständig ein guter Grund einfällt, um am Wochenende über irgendwelchen Akten zu brüten.
»Wird Zeit, dass in München ein bisschen Leben in die Bude kommt, damit dich jemand auf andere Gedanken bringt«, meint er.
»Und ich hatte schon befürchtet, du würdest Italien gar nicht mehr den Rücken kehren und mich allein hier sitzen lassen«, sage ich lächelnd.
»Du glaubst gar nicht, wie mich das nervt, dass ich ausgerechnet dann hier festhänge, wenn du endlich nach Hause kommst. Aber jetzt habe ich doch noch eine Vertretung für unseren Verwalter gefunden. Was muss der Idiot sich auch mitten in der Weinlese ein Bein brechen?«
»Tut mir leid, dass ich nicht runterkommen konnte«, sage ich zerknirscht. »Aber einer der Fälle ist eine einzige Katastrophe.«
»Papperlapapp, das bekomme ich grade noch allein hin. Sobald der Vertrag unterzeichnet ist, mache ich mich auf den Weg nach München. Was ist das für ein Fall?«
Ich gebe ihm einen kurzen Überblick über den Mord an Tosh Silvers.
»Eigentlich ist die Lage sonnenklar. Eine abgelegene Gaststätte zwischen München und Fürstenfeldbruck ist der Tatort, seit Jahren steht das Haus leer. Und just, als jemand dort umgebracht wird, kommt ein ganzer Bus auf Kaffeefahrt vom Weg ab, eine Horde rüstiger Senioren platzt in den alten Gastraum und überrascht den Tatverdächtigen bei der noch warmen Leiche. Die Mordwaffe konnte ebenfalls sichergestellt und dem Verdächtigen zugeordnet werden«, erzähle ich.
»Lass mich raten: Die Rentner liefern Beschreibungen, die von Urmel aus dem Eis bis hin zu Angela Merkel auf jeden zutreffen könnten.«
Ich lache.
»Nein, die Zeugen sind zwar erwartungsgemäß schockiert, haben Cortone bei der Gegenüberstellung aber alle identifizieren können.«
» Chi? «, fragt Dad.
»Carlo Cortone«, sage ich und wundere mich ein wenig über den unverhofften Wechsel ins Italienische. »Sagt dir das was?«
»Nein. Ich habe Capone verstanden. Dachte schon, du machst Witze«, sagt mein Vater, wieder auf Deutsch. »Also, wo ist das Problem? Wenn ich das richtig sehe, habt ihr den Kerl festgesetzt.«
»Die Ermittlungen sind löchrig wie ein Schweizer Käse.«
»Ach so. Wenn es weiter nichts ist. Jetzt bist du ja da und bringst das schnell in Ordnung.«
Ich muss wieder lächeln. Dads unerschütterlicher Glaube in meine Fähigkeiten ist wirklich rührend. Obwohl einem wahrscheinlich gar nichts anderes übrig bleibt, wenn man niemals Vater werden wollte und plötzlich mit einem Jungen dasteht, der Nacht für Nacht schreiend aufwacht, und der dann, als die Albträume endlich nachlassen, zu einem launischen Flegel mutiert. Das steht man vermutlich nur durch, wenn man fest darauf vertraut, dass der Sohn es irgendwann schon packen wird. »Du hast recht. Gleich morgen werde ich denen ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen«, sage ich.
Wie gut, dass das ein Teil meines Jobs ist, den ich richtig gerne mag.
Montagmorgen weise ich als Erstes meinen Assistenten an, ein paar staatsanwaltliche Vorladungen rauszuschicken.
Zwei Stunden später platzt Kommissar Schneider, ohne anzuklopfen, in mein Büro. Ich seufze verhalten. Wo sind eigentlich die guten alten Zeiten geblieben, in denen ein Vorzimmerdrache so etwas unterband und dafür sorgte, dass sich Besucher wenigstens ankündigen ließen, wenn sie schon keinen Termin hatten?
»Herr D’Vergy …«, beginnt Schneider aufgebracht.
»Oh, Hauptkommissar Schneider«, sage ich harmlos, als sei mir gar nicht aufgefallen, wie lautstark er hereingepoltert ist. »Waren wir verabredet?«
Doch der Kommissar hat scheinbar keine Lust, sich für sein ungebetenes Eindringen zu entschuldigen. Er ballt die Fäuste und wippt auf den Fersen. Ich beglückwünsche mich insgeheim zu der Entscheidung, dass ich den Besucherstuhl verschwinden ließ. Die Körpersprache von Menschen, die vor einem stehen, ist wesentlich leichter zu lesen, wenn sie eben genau das tun: stehen.
»Sie haben einige Zeugen im Cortone-Fall erneut vorladen lassen.«
»Was daran liegen könnte, dass es sonst niemand tut.«
»Herr D’Vergy, das geht so nicht …«
Ich unterbreche ihn erneut, indem ich ebenfalls aufstehe und auf die Akten weise, die sich nun auf dem Besprechungstisch türmen. » Das geht so nicht!«, knurre ich. »Ich ersticke in Papier. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der ganze Kram kommt von Cortones Verteidiger und nicht von meiner eigenen Behörde. Was soll der Mist? Ihre Leute scheinen ausschließlich einem geheimnisvollen Unbekannten hinterhergejagt zu sein, der Cortone angeblich in eine Falle gelockt haben soll, um ihm den Mord an Silvers in die Schuhe zu schieben. Bloß, was ist dabei rausgekommen? Gar nichts! Das allein beweist Cortones Schuld aber leider nicht. Sein Verteidiger zerreißt mich in der Luft, wenn ich mit dem hier ankomme.«
Schneider schluckt. »Die Staatsanwaltschaft ist Herrin des Ermittlungsverfahrens«, sagt er schließlich. »Ich bin davon ausgegangen, dass Sie es mich wissen lassen, wenn Sie der Meinung sind, der Fall sei nicht ausermittelt.«
»Ach?«, spotte ich. »Ich denke, das habe ich gerade getan.«
»Dr. Walther hat darauf bestanden, die Ermittlungen in diese Richtung zu lenken. Wir haben seit Jahren zusammengearbeitet, und ich hatte nie einen Anlass, an seinen Entscheidungen zu zweifeln.«
Ich mustere ihn schweigend und warte.
»Jetzt, da er tot ist, bin ich mir nicht mehr sicher«, gibt Schneider zögernd zu, ohne mir dabei in die Augen zu sehen.
»Sie müssen mit mir über so etwas reden«, fordere ich schroff, um dann versöhnlicher fortzufahren: »So schrecklich das ist, durch den Tod Dr. Walthers haben wir Zeit gewonnen. Ich möchte, dass sämtlichen Ermittlungsansätzen nachgegangen wird, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Setzen wir uns.«
Ich ziehe eine Liste hervor und lege sie auf den Besprechungstisch.
»Silvers’ geschäftliche Verbindungen zu Carlo Cortone wurden ja bereits untersucht, was mich allerdings stutzig macht, ist, der Selbstmord seines IT-lers zwei Tage vor seinem Tod. Die Befragungen der Mitarbeiter in diesen Punkten lassen zu wünschen übrig …«
Schneider setzt sich zu mir, und wir gehen die ganze Liste durch. Schließlich hatte ich nie vor, die Zeugen alle selbst zu befragen. Aber der Kommissar arbeitet bereitwillig mit, macht sich sogar eifrig Notizen auf einem altmodischen kleinen Block. Geht doch.
Der letzte Name, den ich notiert habe, ist Mayra Jennings.
»Das ist doch diese Anwältin, die Testamentsvollstreckerin von Tosh Silvers. Die haben Sie nicht vorgeladen? Sollten wir die nicht auch befragen?«
»Oh, die Dame interessieret mich durchaus«, erkläre ich. Und dann – manchmal liebe ich es wirklich, mich wie ein Arschloch zu benehmen – hole ich einen Bericht von meinem Schreibtisch, von dem ich erwartet hätte, ihn in den Cortone-Akten zu finden. »Denn Silvers war nicht ihr einziger Klient.«
Schneider wirft einen Blick auf das Dokument. »Scheiße!«, sagt er nur.
»Mayra Jennings ist die Anwältin, die Jasemina Brandelhuber aus einer Gewahrsamszelle geholt hat, wenige Minuten, bevor Tosh Silvers’ Schwester in eine Limousine stieg und nie wieder gesehen wurde«, erkläre ich süffisant.
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