»Wie alt bist du, Junge?«
»Dreizehn.«
»Gefällt es dir in der Schule?«
»Geht so.«
»Hast du viele Freunde?«
»Einen. Phil. Die anderen kenne ich nur, wir spielen zusammen.«
»Und deine Noten? Wie sehen die aus?«
Levi zuckte mit den Schultern. »Einser und Zweier.«
Der Arzt sah zu seiner Mutter hinüber. Als er wieder Levi anschaute, lächelte er. »Deine Mutter hat mir erzählt, dass bei euch daheim ein Unglück passiert ist. Die Decke im Wohnzimmer ist eingestürzt.«
Levi nickte.
»Kannst du dich daran erinnern?«
»Ja.«
»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«
»Nein.«
Der Arzt hielt einen Moment inne. »Warum nicht?«
»Weil es schon vorbei ist.«
»Fühlst du dich anders als vor dem Unglück?«
»Ja. Es sind ein paar Tage vergangen seitdem. Außerdem war ich das erste Mal im Krankenhaus.«
»Kannst du in Worte fassen, wie du dich fühlst?«
»Anders als vorher.«
»Fühlt es sich besser oder schlechter an?«
Levi zuckte erneut mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«
Der Arzt beugte sich ein bisschen vor und lächelte wieder. »Schau, Levi, deine Mutter macht sich Sorgen um dich. Manchmal sind solche Ereignisse belastend. Wir wollen nur sichergehen, dass es dir gut geht.«
»Es geht mir gut.« Levi drehte sich auf dem Stuhl um und sah seine Mutter an. »Wirklich.«
»Levi«, sagte der Arzt und wartete, bis Levi sich wieder umwandte. »Deine Mutter hat mir auch erzählt, dass euer Nachbar bei diesem Unglück gestorben ist.«
»Ja. Er hatte ein schwaches Herz. Seine Zeit war gekommen.«
Wieder ein kurzes Innehalten des Arztes. »Wie meinst du das?«
»Er war alt. Ich konnte schon seit einigen Monaten riechen, dass er bald stirbt. Herr Gruber wusste es selber, er hat es mir gesagt.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagte jeden Tag, wenn ich ihn traf, dass es ein guter Tag wäre, um zu sterben.«
»War er freundlich zu dir, der Herr Gruber?«
»Er war zu niemandem freundlich. Er war grimmig, weil er wusste, dass er bald stirbt. Ich konnte es riechen.«
»Wie riecht jemand, der bald stirbt?«
»Alt. Wie der feuchte Keller von Phils Oma, in dem sie Obst und Gemüse aufhebt.«
Der Arzt lächelte nachsichtig. »Da war noch etwas, bevor das Unglück passiert ist. Willst du es mir erzählen?«
Levi wusste jetzt, worauf der Arzt hinauswollte. Er sah auf seine Hände im Schoß hinab und schüttelte den Kopf.
»Du hast deiner Mutter das Leben gerettet, nicht wahr?«
Levi zuckte mit den Schultern. Er fühlte seine Mutter im Rücken.
»Du hast sie geschlagen, weil sie nicht auf dich hören wollte. Und dann hast du sie aus dem Zimmer geschleift. Du bist ganz schön kräftig, was?«
»Es war nötig«, murmelte Levi.
»Ist dir unangenehm, darüber zu sprechen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich meine Mutter nicht verletzen wollte. Ich wollte ihr helfen.«
»Das weiß deine Mutter.«
»Ja«, sagte seine Mutter. »Das weiß ich, Levi.«
»Deine Mutter möchte nur wissen, woher du wusstest, dass die Decke herunterkommt.«
»Ich habe es gesehen.«
Kurzes Schweigen.
»Hat sich der Putz schon gelöst? War es das, was du gesehen hast?«
Levi schüttelte den Kopf.
»Was tust du in deiner Freizeit gern, Levi?«
Überrascht über den Themenwechsel, sah Levi auf. Der Arzt hatte stahlgraue Augen.
Er sah ihn über ein Waschbecken gebeugt. Neben ihm lag eine leere Pillendose. Der Arzt war weggetreten. Hinter ihm auf dem Boden saß eine nackte Frau, die auch berauscht aussah. Sie grinste und kratzte mit ihren Fingernägeln über den Boden. Ihr Haar war nass.
»Nehmen Sie die Tabletten nicht«, sagte Levi. »Die machen Sie krank. Und die schöne Frau auch. Sie wird zu viele nehmen und sterben, und Sie werden sich das nie verzeihen.«
Jetzt dauerte das Schweigen länger. Im Gesicht des Arztes stand Entsetzen. Levi hörte, wie sich seine Mutter bewegte.
»Das meine ich!«, sagte sie. »Plötzlich sagt er solche Sachen zu den Leuten!«
Der Arzt wandte sich ab. Er tippte etwas in seinen Computer und schaute auf den Monitor. »Da müssen wir etwas unternehmen. Ich gebe Ihnen eine Überweisung mit. Gehen Sie mit ihm zu einem Psychiater.«
»Was glauben Sie, was das ist?«
Der Arzt sah seine Mutter ernst an. »Ich will keine voreilige Diagnose stellen, aber ich will auch ehrlich sein. Es könnte etwas schlimmer sein als erwartet.«
»Inwiefern?«
Jetzt richteten sich die stahlgrauen Augen doch wieder auf Levi. »Warum hast du das zu mir gesagt, Junge?«
Levi schwieg.
»Sehen Sie, er will dazu nichts sagen. Man muss erst einmal eine Vertrauensbasis aufbauen, um herausfinden zu können, was in ihm vorgeht. Darum rate ich Ihnen, zu einem Psychiater zu gehen und dort eine Therapie zu beginnen. Im Laufe der Zeit wird sich zeigen, wie krank Ihr Sohn ist.«
»Ich bin gesund«, sagte Levi.
»Wie ist Ihre erste Einschätzung?«, fragte seine Mutter.
Der Arzt holte tief Luft. »Basierend auf dem, was Sie mir geschildert haben, und aufgrund seiner Behauptung, er sehe Dinge, die nicht da sind, tippe ich auf etwas in Richtung Schizophrenie. Machen Sie sich darauf gefasst. Aber er ist noch jung, und mit der entsprechenden Medikation und Therapie kann man das bestimmt in den Griff bekommen.«
Levi drehte sich auf dem Stuhl um. »Mama, ich bin nicht krank. Wirklich nicht. Alles, was ich sehe, ist da. Es passiert wirklich. Hör nicht auf diesen Arzt. Er nimmt Tabletten und hat Angst, weil ich es weiß.«
»Bist du jetzt still!«, sagte seine Mutter. Sie stand auf. »Entschuldigen Sie. Es tut mir leid, dass er so etwas sagt.«
Der Arzt erhob sich ebenfalls. Seine Wangen waren gerötet. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Ich habe weitere Termine. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Ohne Levi anzusehen, verabschiedete er sie an der Tür.
Im Auto liefen ihm die Tränen über die Wangen. Immer wieder versuchte er, seiner Mutter begreiflich zu machen, dass er nicht krank war, doch seine Mutter verbat ihm den Mund. Sie sah selbst aus, als könnte sie jeden Moment zu weinen anfangen.
Sie fuhren zu Tante Hilda, und dort setzte ihn seine Mutter in ein kleines Zimmer, in dem er seine Kleidung in eine Kommode räumen sollte. Während Levi das tat, konnte er hören, wie seine Mutter schluchzte und Hilda tröstend auf sie einredete.
06.05.1996
»Was weißt du über deinen Vater?«, fragte die Psychiaterin bei ihrer dritten Sitzung. Sie saß steif in ihrem Stuhl.
Levi saß zurückgelehnt in seinem Stuhl ihr gegenüber. Er sagte nichts.
»Deine Mutter hat mir erzählt, dass du ihn nicht kennst und dass sie dir nichts von ihm erzählt hat. Das stelle ich mir traurig vor. Interessiert es dich nicht, wer er ist?«
»Mama sagt, dass er kurz vor meiner Geburt ging.«
»Bist du deshalb traurig?«
Er sah die Frau an. »Er hat Mama und mich bestimmt bald vergessen.«
»Das kann sein. Aber meine Frage ist, ob dich das traurig macht.«
»Wären Sie traurig?«
»Bestimmt.«
»Dann nehmen Sie doch Ihre Antwort. Sie werden eh zu meiner Mutter sagen, dass ich krank bin, ganz egal, was ich Ihnen sage.«
Sie lächelte. »Ich werde sagen, was ich für die Wahrheit halte. Wir alle wollen dir nur helfen, Levi.«
»Die Wahrheit ist für jeden anders. Sie kennen meine doch gar nicht. Wenn Sie mir helfen wollen, dann sagen Sie meiner Mutter, dass ich gesund bin, damit ich wieder nach Hause gehen kann.«
»So einfach ist das leider nicht.« Sie lächelte wieder. »Dass du diese Dinge siehst, von denen mir deine Mutter erzählt hat, ist nicht schlimm. Wenn wir zusammen herausfinden, wie das genau bei dir ist, können wir dir helfen, damit es aufhört. Und dann bist du ein ganz normaler Junge wie alle anderen auch. Das möchten wir erreichen, Levi, und dafür brauche ich deine Hilfe.«
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