Schweigen.
»Wenn du so weitermachst, dann hast du bald keinen mehr«, fuhr Phil fort. »Ich werde immer dein Freund sein, mein ganzes Leben lang wird dir meine Türe offen stehen. Es wird niemals etwas geben, das ich dir verweigern würde. Das weißt du alles. Und jetzt erkläre mir, warum du trotzdem diesen Graben schaufelst.«
»Weil ich das Gefühl habe, alle profitieren von meiner Fähigkeit, nur ich nicht. Du kommst nach zwei Jahren aus Afrika und willst wieder nur, dass ich dir das Go zum Heiraten der Kleinen gebe. Das bin nicht ich, Phil. Du würdest alles für mich tun? Nein. Du würdest alles für das tun, was ich kann. Könnte ich es nicht, wer weiß, ob wir überhaupt Freunde wären.«
Phil sagte nichts.
Die Bedienung kam. Levi bestellte zwei weitere Absinth, Phil zwei Bier. Sie tranken den Absinth. Die Kneipe füllte sich allmählich, immer mehr Studenten trieb es von draußen herein.
»Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen.«
Levi seufzte. »Wenn ich etwas sehe, sage ich es dir. Versprochen.«
»Danke.«
»Aber bitte bleib die Woche. Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.«
Phil nickte. »Sag ich doch! Und jetzt rufst du die Kleine von letztens an, damit ich sie kennenlernen kann.«
»Warum?«
»Weil ich es will.«
Levi hatte sie nach dem dritten Klingeln am Handy. Sie redete los, noch ehe er hallo sagen konnte.
»Endlich! Ich dachte schon, du meldest dich gar nicht mehr. Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht anrufen werde, aber das war eine ganz schöne Bewährungsprobe für mich.« Sie lachte. »Wann können wir uns treffen?«
»Jetzt. Mein Freund will dich sehen.«
»Und du nicht?«
»Ich musste oft an dich denken.«
»Das ist schon mal ein Anfang. Wo seid ihr?«
Levi sagte es ihr. Zwanzig Minuten später war sie da. Sie trug wieder den bunten Hut.
»Und du bist der beste Freund«, sagte sie zu Phil. »Ich dachte schon, so ein Typ wie er hätte keine Freunde.«
»Hat er auch nicht.« Phil schlug gegen Levis Schulter.
»Er ist mein einziger Freund«, sagte Levi.
»Na, jetzt hast du noch einen.« Karoline holte sich ebenfalls ein Bier. Sie trug eine Jeans und ein schwarzes Oberteil. Phil blickte ihr nach.
»Die ist wirklich anders als die anderen«, sagte er.
»Ja. Ist sie.«
Karoline kehrte an den Tisch zurück. »Was habt ihr Jungs heute noch vor? Jetzt, nachdem Phil mich kennt?«
»Ich bin nur eine Woche hier«, sagte Phil. »Wahrscheinlich werden wir uns jeden Abend betrinken und tagsüber schlafen.«
»Da kann ich nicht mitmachen. Manche Leute gehen arbeiten. Woher kommst du?«
»Aus Afrika. Seit zwei Jahren arbeite ich dort als Arzt.«
»Ich bin die Empfangstipse eines Heilpraktikers. Wir öffnen morgen um neun Uhr, da muss ich fit sein.« Karoline sah Levi an. »Ich weiß noch gar nicht, was du machst.«
»Ich arbeite für Drillinge. Ihre Aufträge kommen unregelmäßig und ich muss nicht unbedingt nüchtern sein dafür.«
»Er spinnt, oder?«
Phil nickte. »Total.«
»Woher kennt ihr euch? Aus dem Sandkasten?«
»So ungefähr«, antwortete Phil. »Meine Eltern haben sich ein Haus hier in der Nähe gekauft, als ich zwölf war, und ich ging in der Stadt ins Gymnasium, und da setzte mich der Klassenleiter neben Levi. Anschließend schrieb er in den Schularbeiten von mir ab.«
»Außer in Ethik«, sagte Levi.
»Das stimmt. Da war ich nicht dabei, ich bin Katholik.«
Karoline sah Levi an. »Warum hast du dich jetzt erst gemeldet?«
Er erwiderte ihren Blick. Noch immer nichts. Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich melde ich mich kein zweites Mal.«
»So einer bist du also!«
»Man mag es kaum glauben, was?« Phil grinste. »Dass so ein Kerl so mühelos Weiber aufreißen kann … Da war er mir immer voraus.«
Karoline sah zwischen den beiden hin und her. »Levi hat irgendwas. Ich weiß nicht, was es ist, aber er wirkt rätselhaft.«
»Das scheint bei euch Frauen zu funktionieren.«
»Wahrscheinlich, weil wir gern analysieren. Intuitiv, nicht mit dem Verstand. Er sieht auch ein bisschen leidend aus, da setzt vermutlich der Mutterinstinkt ein.«
»Du meinst, du hast Muttergefühle für Levi?«
»Naja, nicht so richtig. Jedenfalls ist er keiner von diesen normalen Dreißigjährigen, und das allein zieht mich schon an. Als ich ihn damals am Brunnen sitzen sah, da hat er so einen meditativen Eindruck gemacht, so in sich gekehrt, einsam, besoffen, und trotzdem zufrieden. Die Mischung hat mich angezogen.«
»Du bist auch nicht wie die anderen, was?«
»Genauso wenig wie ihr.« Karoline hob den Krug und sie stießen an.
»Unnötig anzumerken, dass ich auch hier bin«, murmelte Levi.
»Bitte?«
»Ihr redet über mich, als wäre ich nicht da.«
»Bist du ja meistens auch nicht.« Phil zwinkerte.
24.04.1996
Als er zu Hause ankam, legte er sich in sein Bett und schlief. Zwei Stunden später weckte ihn seine Mutter.
»Wieso bist du daheim und nicht im Krankenhaus?«
»Ich bin gesund.«
Sie setzte sich an die Bettkante, nahm seinen Kopf in beide Hände und sah sich die Platzwunde an. Danach begutachtete sie seine Hand, tastete sie ab und bewegte die Finger. Ihr Blick war unergründlich.
»Wir wohnen solange bei Hilda. Das Haus muss renoviert werden, es ist nicht mehr sicher.«
Levi nickte.
»Steh auf und geh duschen. Ich packe deine Kleidung ein. Wir fahren noch einmal ins Krankenhaus.«
»Ich bin gesund«, wiederholte Levi.
»Das entscheiden die Ärzte.« Seine Mutter stand auf, kehrte ihm den Rücken zu und fing an, den Kleiderschrank auszuräumen.
»Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe.«
Sie hielt inne, drehte sich aber nicht um. »Geh und wasch dich.«
Eine halbe Stunde später stiegen sie ins Auto und fuhren zurück ins Krankenhaus. Die ältere Krankenschwester war wieder da. Sie sagte, sie hätten Levi schon überall gesucht. Sie begleitete seine Mutter und ihn in einen Wartebereich, und fast eine Stunde später kam jemand, der Levi für eine Röntgenaufnahme abholte. Als er zurück in den Wartebereich kam, unterhielt seine Mutter sich mit einem Arzt. Levi ging zu ihnen. Die beiden verstummten und betrachteten ihn.
»Kommen Sie nach den Untersuchungen in den dritten Stock«, sagte der Arzt schließlich. »Dann sehe ich mir Ihren Jungen mal an.« Er drehte sich um und verließ den Raum.
»Was will er ansehen?«
Seine Mutter führte ihn zurück zu den Stühlen, sie setzten sich. »Er wird dich ein paar Sachen fragen. Das ist alles.«
Sie wurden aufgerufen und folgten einer Schwester in einen Behandlungsraum. Einer der Ärzte, der Levi betreut hatte, wartete dort auf sie. Er gab seiner Mutter die Hand und bat sie, sich zu setzen.
»Der Mittelhandbruch ist verheilt«, sagte er. »Komm mal her, Levi.«
Levi stellte sich hin, der Arzt tastete seinen Kopf ab.
»Auch die Platzwunde ist geheilt. Ich entferne gleich die Fäden. Setz dich.« Der Arzt sah Levis Mutter an. »Das nenne ich eine Blitzheilung. Ich kann es mir nur so erklären, dass wir uns getäuscht haben und kein Mittelhandbruch vorgelegen hat. Vielleicht eine Verwechslung der Röntgenbilder.«
»Dann können wir gehen?«
»Ja. Ich nehme nur noch rasch die Fäden heraus.«
Anschließend fuhren sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Seine Mutter meldete sie bei der dortigen Station am Empfang an, und wieder mussten sie warten. Levi hielt sich still, weil er wusste, dass seine Mutter nicht gut auf ihn zu sprechen war. Sie war sicher noch wütend, weil er sie geschlagen hatte.
Der Arzt aus dem Wartezimmer kam und holte sie ab. Wieder waren sie in einem Behandlungszimmer, dieses Mal aber saß Levi direkt vor dem Arzt, seine Mutter im Hintergrund. Der Arzt wirkte nett.
Читать дальше