»Und dann?«
Philipp Schwarzers Blick verlor sich in seinen Erinnerungen. »Und dann? Dann wurde es vollkommen verrückt. Auf ihrer Karte stand auch die Adresse ihrer Homepage. Wusstest du, dass … deine Elektra jetzt in Kolumbien lebt?«
»Nein. Und sie ist nicht meine –«
»Schon gut, Raymond, sorry«, fiel Philipp ihm erneut ins Wort. »War auch nur ein Scherz, obwohl … scherzen sollte man mit dieser Frau besser nicht. Na, jedenfalls hat es mir keine Ruhe gelassen … Was will eine Frau, die in Kolumbien lebt, mit zwei Obstwiesen am Bodensee? Das war irgendwie absurd. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass sie als Taufgeschenk für deine Tochter gedacht waren.«
»Was? Bist du jetzt völlig …?« Übergeschnappt, hatte Raymond sagen wollen, hatte das letzte Wort aber zurückgehalten. Zu verrückt klang alles, was er da gehört hatte … Aber es sollte noch verrückter kommen.
»Ach, das weißt du noch gar nicht?«
»Das ist Unsinn, Philipp, völliger Unsinn. Vor einer Woche wusste ich ja selbst noch nichts von der morgigen Taufe. Und außerdem … Sie ist ja nicht einmal eingeladen.«
»Ja, gut, du hast recht, das mit dem Taufgeschenk erzählte sie mir auch erst am Mittwoch. Aber das mit der Einladung zur Taufe, Raymond, das würde ich mir an deiner Stelle noch mal gründlich überlegen.«
Fragend sah Raymond seinen Nachbarn an. War das jetzt lediglich ein Hinweis oder am Ende gar eine Art Drohung?
»Weißt du, wer ihr Gatte war?«
Raymond schüttelte den Kopf. »Ich weiß lediglich, dass er vor einem Jahr tödlich verunglückt ist … hat sie mir erzählt. Aber ob das wirklich stimmt?«
»Verunglückt? Ha! Hat sie wirklich ›verunglückt‹ gesagt?«, stieß Philipp Schwarzer gehässig hervor.
»Ja. Das waren ihre Worte gewesen. Vielleicht ein Autounfall. Danach klang es zumindest für mich.«
»Nein, Raymond, kein Autounfall, und er ist auch nicht einfach verunglückt, er … er wurde erschossen … auf offener Straße.«
Schweigend sah Philipp Schwarzer seinen Nachbarn einen langen Moment an und fuhr dann ruhig fort: »Sicherlich, erschossen werden ist auch ein Unglück, aber bestimmt nichts, was wir beide unter ›verunglückt‹ verbuchen würden.«
Raymond wusste nicht, ob er all das, was er da hörte, glauben sollte. Elektra war nie »ein Kind von Traurigkeit« gewesen, hatte immer schon das aufregende Leben geliebt … war darin oft robuster gewesen als manch ein Mann.
Aber das hier?
Gut, sie hatte ihn verlassen, weil sie noch etwas, nein, weil sie noch viel hatte erleben wollen, auch weil sie sich noch hatte ausprobieren wollen …
Genau genommen hätte er da schon spüren können und auch müssen, dass ein Heiratsantrag ins Nichts laufen würde. Aber ihre Worte – sich ausprobieren wollen – waren aus einer übermütigen Laune heraus gesagt worden. Er hatte sie nicht ernst genommen.
Doch war das jetzt nicht mehr von Belang, bemerkenswerter war, in welche Kreise sie danach geraten war … und dass sie wohl außerdem eine sehr befremdliche Art von Wahrheit im Umgang mit ihrem Leben gefunden hatte.
Erschossen , ging es ihm durch den Kopf. Was für eine andersartige und bizarre Welt.
Und was wollte diese Frau, die ihm mit jedem von Philipps Worten fremder geworden war, tatsächlich von ihm? Zwei riesige Obstwiesen für seine Tochter? Was sollte das? Elektra lebte jetzt in Kolumbien. Oder wollte sie am Ende tatsächlich zurück … zu ihm?
Philipp Schwarzer schien ihm seine Gedanken an den ungläubigen Augen abzulesen, zumindest einen Teil davon, und verhalten fuhr er fort: »Dieser Rafael Marin Gonzalez – sein Name hat sich mir auf immer und ewig eingebrannt – war so was wie der Pate von Kolumbien. Er -«
»Was? Du meinst Drogen?«
»Nein, nein, keine Drogen. Alles ›legal‹. Was viel cleverer ist. Ihm gehörten beinahe dreißig Prozent der kolumbianischen Kaffeeplantagen, dazu eine Baufirma, die nahezu alle Fernstraßen in Kolumbien baut, und schließlich noch die größte Müllentsorgung des Landes. Ein riesiges Imperium. Milliardenschwer. Und all das … gehört jetzt dieser Elektra.«
»Du erzählst Unsinn, Philipp.«
»Ach ja? Weißt du, warum sie nicht mehr bei dir hier wohnt, wie sie es anfänglich vorgehabt hat?«
»Nein, aber du weißt es, was?«
»Raymond, ich weiß, das klingt jetzt alles ziemlich verrückt, aber du musst mir glauben. Informiere dich! Im Netz findest du fast alles.« Eindringlich sah er Raymond an und fuhr dann fort: »Außerdem … eine Cousine von mir ist die Empfangschefin im Excelsior, und die hat mir noch so einiges erzählt, vertraulich. Dinge, die du natürlich nicht im Internet findest.« Philipp Schwarzer sprühte vor Überheblichkeit. Wie Raymond das hasste.
»Und was … was hat deine Cousine dir erzählt, Philipp?«
»Elektra, beziehungsweise ihre Sekretärin, hat im Excelsior eine ganze Etage angemietet. Und das schon seit Anfang letzter Woche. Und deine Elektra ist auch schon seitdem hier. Genau genommen seit dem Dienstag nach der Beisetzung. Und sie hat auch nicht nur drei oder vier Koffer dabei, wie sie es Paula glaubhaft machen wollte. Außerdem ist ihr Sicherheitschef mit drei Securitys wohl auch ständig um sie herum. Sehr diskret. Und dieser Sicherheitschef soll ihr wohl gesagt haben, dass er hier, auf deinem Landgut, nicht gänzlich für ihre Sicherheit garantieren könne. Deshalb ist sie auch wieder zurück ins Excelsior gezogen.«
»Halt, Philipp! Das alles ist doch … Sind wir hier in einem schlechten Film?« Raymond schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich habe Elektra nicht gebeten zu kommen, und ich will auch nichts von ihr, im Gegenteil, als sie mich letzten Samstag traf, habe ich ihr deutlich gemacht, dass ich kein Interesse mehr habe. Und sie ist auch morgen nicht eingeladen, woran ich nichts ändern werde. Also, warum sollte sie mir oder meiner Tochter zwei riesige Obstbaumwiesen ›schenken‹?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber eines weiß ich sicher, es muss ihr sehr wichtig sein, denn … sie hat verdammt viel Geld dafür auf den Tisch gelegt.« Und Philipp Schwarzer erzählte weiter: »Letzten Samstag sagte ich ihr noch einmal, dass ich nicht verkaufen werde. Du musst mir glauben, ich hatte es wirklich nicht vor. Doch sie ließ nicht locker. Und dann begann sie mit den ersten versteckten Drohungen. ›Michaela, deine Tochter, ist jetzt neunzehn. Ein hübsches Mädchen, hab ich mir sagen lassen. Und sie fährt noch immer mit dem Fahrrad. Das ist doch ziemlich gefährlich, oder? Ein kleines Auto, das du ihr von dem Erlös hier schenken könntest, wäre doch viel sicherer, oder nicht?‹, hat sie mit gleichmütiger und kalter Stimme gesagt. Es war schrecklich, Raymond. Sie weiß auch, dass Magnus in einem Internat für Hochbegabte ist. ›Magnus, dein Sohn, ist eben sechzehn geworden und macht nächstes Jahr schon sein Abi. Chapeau! Dann will er Physik oder Mathematik studieren. Ein helles Köpfchen. Ich freue mich für dich‹, hat sie gesagt. Und glaube mir, Raymond, in ihren Augen lag keine Freude, auch konnte ich kein Mitgefühl entdecken. Ihre Augen, schwarz mit einem grünen Schimmer, waren eiskalt. Sie hat mir gedroht!«
Raymond spürte, wie ihn plötzlich etwas umklammerte, und er schluckte trocken. Obwohl all das Gehörte mehr in einen düsteren Krimi passte, glaubte er Philipp nun doch jedes Wort. »Und dann?«
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