Dann fiel sein Blick auf Silvana. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie, Melissas beste Freundin, einen unsagbar großen Anteil an jedem seiner heutigen Glücksmomente hatte. Kommt der Albtraum immer wieder, dann träume ihn bis zum Ende … Oder auf dem Landgut: Sie ist ein Segen für Rosa … Schließlich bei der ersten Begegnung mit seiner kleinen Tochter: Ich bin mir jetzt sicher, sie bekommt … nein, sie hat einen wundervollen Vater.
Worte, die er erst allmählich begriff. Auch wäre er ohne sie sicher nicht hier.
Silvana! Was für eine Frau.
Lange und nachdenklich sah er sie nun an. Ihr Gesicht war voller Freude. Ihr Mund, ihre Augen, schienen im Moment nur unberührte, ungetrübte Gedanken zu kennen. Sie hatte am wenigsten mit all dem hier zu tun, und doch war sie es, die den Unterschied ausmachte. Alle lehnten sich mit ihren Gedanken und Hoffnungen an sie an. Und sie gab und gab und gab.
Der Saum ihres dunklen Jerseykleides war ihr über die Knie gerutscht und ließ die nicht gar so schlanken Oberschenkel erahnen, auch schmiegte sich der weiche Stoff an der einen oder anderen Stelle dicht an ihren Körper, der kaum irgendwelchen Idealmaßen entsprach. Aber er entsprach ihr. Vollendet.
Sie spürte seinen Blick, und sie packte und erwiderte ihn gleichermaßen … einen kurzen Atemzug lang. Doch rasch verloren ihre Augen wieder diesen Hauch von Intimität, trugen sie wieder dieses Bestimmende und Fordernde in sich. Wir sind hier, weil du etwas klären wolltest. Der Moment ist jetzt günstig . Sie musste es nicht sagen, er verstand sie einfach.
Und er lächelte. Offensichtlich hatte sie ein untrügliches Gefühl für den richtigen Moment.
»Am Sonntag …«, durchbrach er sanft die Stille, räusperte sich noch einmal und gab seiner Stimme damit die Klarheit, die seine Worte unterstreichen sollten. »Am Sonntag soll die Taufe sein.«
Er brach kurz ab, denn plötzlich ängstlich geworden, blickte Sibylle ihren Mann an und nahm dabei die Hand des Babys hinunter, die sie im Moment wohl nicht mehr im Gesicht spüren wollte. Ingmar begriff die Gedanken seiner Frau scheinbar sofort.
»Bevor du weiterredest … Sicherlich kommen wir gern in die Kirche. Aber mehr –«
»Ihr seid die Großeltern. Und wie ihr seht, liebt Rosa euch«, unterbrach Raymond ihn.
Sibylle und Ingmar zuckten distanziert die Schultern.
Raymond wollte nicht glauben, was sich hier einschlich. Es war wie damals – ein Déjà-vu. Er erinnerte sich an die Hochzeit. Sie hatten sich auch damals selbst ausgegrenzt. Seine Schwiegereltern hatten es ganz allein getan. Sie hatten es so gewollt. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Er verstand sie nicht. Ingmar war ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann, doch offensichtlich schien ein Adelstitel beide zutiefst zu beeindrucken und aus unerfindlichen Motiven gar abzuschrecken.
Aber dieses Mal wollte er das nicht zulassen. Rosa liebt euch, sie braucht euch, seht ihr das nicht?
»Es wird nur eine sehr kleine Feier geben«, fuhr er fort. »Und ausschließlich mit den Personen, die für Rosa in den ersten Wochen ihres Lebens da waren.« Er sah seine Tochter an, und er lächelte. »Und auch mit den Personen, die leider nicht da waren, die Rosa aber … die sie offensichtlich von ganzem Herzen liebt. Damit meine ich nicht nur euch, sondern … auch mich.«
Einen Augenblick schwieg er und betrachtete liebevoll das kleine Mädchen, das seine Gedanken mehr und mehr bestimmte.
»Ja, Rosa ist eine Prinzessin. Daran führt kein Weg vorbei. Und ganz ohne Frage wird sie irgendwann auf den Bällen der Gesellschaft tanzen und wird sich dort hoffentlich ausgelassen vergnügen. Vielleicht wird sie da auch ihren Prinzen kennen und lieben lernen. Aber bis dahin … Rosa ist auch ein Mädchen … ohne Mutter. Mel hätte ihr mit Freuden gezeigt, wie Leben geht. Davon bin ich überzeugt. Und bestimmt hätte sie es gut und richtig und mit viel Liebe getan. Auch davon bin ich überzeugt. Und warum hätte sie es so und nicht anders tun können?« Nun hob er den Blick und sah seine Schwiegermutter an. »Weil sie es selbst erfahren hat. Hier. Durch dich. Durch ihre eigene Mutter.«
Sibylle lief eine Träne über die Wange, und hastig griff sie nach der Hand ihrer Enkeltochter.
Raymond überlegte kurz, ob er jetzt … Nein, nicht heute. Irgendwann werde ich ihnen alles erzählen. Von der Geburt, von Mels Entscheidung. Aber nicht heute. Alles hat seine Zeit.
Und verhalten fuhr er fort: »Und deshalb bitte ich dich … bitte ich euch … nicht nur kurz in der Kirche zu erscheinen. Sondern werdet Teil von Rosas Leben. Und fangt heute und am Sonntag bei der Taufe damit an. Dort, für jedermann sichtbar, als Taufpaten. Auch wenn es ungewöhnlich ist, da ihr ja sowieso schon die nächsten Verwandten seid.«
Ängstlich und fragend blickte Sibylle erst Raymond und dann schließlich ihren Mann an.
Der zuckte die Achseln und sagte zu seiner Frau: »Wenn du dir das zutraust? Natürlich bin ich auch da. Für dich. Für euch … Im Hintergrund.«
Nun lächelte sie. Voller Liebe.
»Sollen wir zu zweit …?«, fragte Sibylle dezent. »Oder gibt es in deinen Kreisen nur einen Taufpaten?«
Die Abneigung saß tief. Dennoch …
»In ›meinen Kreisen‹, zu denen ihr im Übrigen seit mehr als sechs Jahren auch gehört, gibt es auch zwei Taufpaten. Manchmal sogar drei.«
»Und wer wird der zweite sein?«, fragte Sibylle etwas ängstlich und spielte dabei verlegen mit der Hand ihrer Enkeltochter.
»Silvana wird –«
»Du Silv?«, unterbrach Sibylle ihn hastig und sah aufgeregt die Freundin ihrer Tochter an.
Silvana nickte. »Ja. Raymond hat darauf bestanden. Und wenn ich Rosa so betrachte, dann denke ich, ist all das hier eine gute Entscheidung.«
Sibylle Scholz schien ein Stein vom Herzen zu fallen, sie wirkte erleichtert, nein, mehr noch: Sie schien das erste Mal seit Wochen nicht mit dem Schicksal zu hadern.
»Du hast recht. Und ich denke, dann soll es so sein.«
16 – Sie waren gerade fertig geworden …
… und Konrad Schwendt grinste erleichtert, kurz nachdem er das Büro des Landgrafen im Gutshaus betreten hatte.
Raymond nickte anerkennend. Heute war Samstag, sie hatten kaum mehr als drei Tage für die Beseitigung des Chaos in Silvanas Wohnung benötigt – eine wirklich anerkennenswerte Leistung. Die Polizei hatte, wie es wohl üblich war, dem Vorfall ein Aktenzeichen zugeteilt und würde bei Änderung der Kenntnis- und Sachlage die Ermittlungen wieder aufnehmen, wie man Silvana gesagt hatte. Da nichts gestohlen worden war und die Einbrecher auch keine verwertbaren Spuren hinterlassen hatten, würde es wohl diese weiteren Ermittlungen nie geben. Niemand war verärgert darüber, im Gegenteil, alle, nicht nur Silvana, waren froh, mit der abgeschlossenen Aufräumaktion dieses leidliche Anliegen aus den Köpfen zu bekommen.
»Ich danke Ihnen, Konrad.«
»Nicht der Rede wert, Herr Graf.«
Herr Graf! Aus Konrads und Paulas Mund fühlte sich diese Anrede seit seiner Rückkehr nicht mehr passend an. Das würde er ändern, bald schon, doch im Moment, bis morgen, gab es drängendere Aufgaben.
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