Der nächste Tag erschien mir endlos. Bald nach dem Tee bestieg ich den Bus. Es war zwar bereits dunkel, aber trotzdem traf ich viel zu früh am Circus ein.
Unruhig wanderte ich auf und ab, zog mir vor den Auslagenscheiben die Krawatte zurecht und feilte meine Nägel zum hundertsten Male.
Schließlich saß ich zum fünftenmal traumverloren auf dem Leicester Square. Ich sah auf meine Uhr und bemerkte, dass es bereits drei Minuten über die vereinbarte Zeit geworden war.
Keuchend vor Aufregung lief ich ins Restaurant. Meine Angst war unbegründet gewesen. Hoheitsvoll, wie der Inbegriff des ewig Weiblichen, saß sie an unserem Tisch in der ersten Etage. Bei meinem Anblick entspannte sich ihr großes, blasses Gesicht, und sie sah mich mit solch unverhüllter Freude an, dass ich beinahe gejauchzt hätte.
Ich will nicht von der wunderbaren Innigkeit jenes Abends sprechen. Es genügt zu sagen, dass wir erkannten, unsere Geschicke seien unlösbar mitsammen verbunden.
Es wurde Zeit aufzubrechen. Zu meiner Überraschung wiederholte sich der gleiche Vorgang wie beim ersten Mal. Das war mir unerklärlich. Wieder blieb sie allein am Tisch neben der Marmorsäule sitzen. Wieder trat ich allein in die Nacht hinaus. Ich hatte noch die berauschenden Worte auf den Lippen: »Morgen... morgen... um die gleiche Zeit.«
Die Gewissheit, dass ich sie und sie mich liebte, stieg mir zu Kopf. In jener Nacht schlief ich kaum, und am nächsten Tag ging ich mir und meinen Eltern auf die Nerven.
Ehe ich abends zu unserem dritten Rendezvous aus dem Haus ging, schlich ich mich ins Schlafzimmer meiner Mutter und wählte aus den wenigen Habseligkeiten in ihrem Schmuckkästchen einen Ring aus. Gott weiß, dass er nicht würdig war, am Finger meiner Angebeteten zu stecken, aber er sollte ein Zeichen unserer Liebe sein.
Auch diesmal wartete sie bereits auf mich, obwohl ich volle fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit erschien. Sooft wir beisammen waren, hatten wir das Gefühl, hinter einem Schleier der Liebe allein zu sein. Wir hörten nichts außer unseren Stimmen, sahen nichts als die Augen des anderen.
Sie steckte den Ring sofort an den Finger und drückte zärtlich meine Hand. Ihre Kraft war erstaunlich. Ich zitterte am ganzen Körper. Unter dem Tisch versuchte ich, meinen Fuß an ihren zu drücken. Ich konnte ihn nirgends finden.
Wieder kam der gefürchtete Augenblick heran und ich ließ sie aufrecht sitzend zurück. Ihr liebevolles, inniges Abschiedslächeln blieb mir wie ein phantastischer Sonnenaufgang im Gedächtnis haften.
Acht Tage lang trafen und verabschiedeten wir uns auf diese Weise. Mit jedem Beisammensein wuchs unsere Gewissheit, dass wir schleunigst heiraten mussten, solange uns der Zauber gefangen hielt.
Am achten Abend war alles entschieden. Sie wusste, dass ich die Hochzeit geheim halten musste, weil meine Eltern dieser überstürzten Heirat niemals zustimmen würden. Das verstand sie. Sie allerdings wollte ein paar Freunde einladen.
»Ich habe ein paar Kollegen«, sagte sie. Ich wusste nicht, was sie damit meinte, aber da sie mir gleich darauf erklärte, wo wir uns am nächsten Nachmittag treffen sollten, vergaß ich ihre Bemerkung wieder.
In der ersten Etage eines bestimmten Gebäudes am Cambridge Circus sei ein Standesamt, sagte sie. Dorthin sollte ich um vier Uhr kommen. Alle Formalitäten würde sie erledigen.
»Ach, mein Herz«, hatte sie gesagt und dabei langsam den großen Kopf geschüttelt, »wie soll ich es bis dahin aushalten?« Und dann schickte sie mich mit ihrem bezauberndsten Lächeln fort.
Zum achten Mal ließ ich sie an unserem Tisch zurück. Ich wusste, dass jede Frau ihr kleines Geheimnis hat, das man ihr nicht entreißen darf, also schluckte ich die Frage, die ich ihr so gern gestellt hätte: Warum musste ich sie jedes Mal allein lassen, und weshalb war sie immer schon vor mir da?
Am nächsten Tag durchstöberte ich den Toilettentisch meines Vaters und fand einen goldenen Ring. Kurz nach drei, nachdem ich mein Haar gebürstet hatte, dass es wie Seehundfell glänzte, schlich ich aus dem Haus. In meinem Knopfloch steckte eine Blume, und ich trug einen Koffer mit meinen Habseligkeiten bei mir. Es war ein strahlender, windstiller Tag.
Der Bus fuhr viel zu langsam für meinen Geschmack. Endlich bogen wir in den Cambridge Circus ein. Da ich eine genaue Beschreibung des Standesamtes erhalten hatte, erkannte ich das Haus sofort. Unmittelbar davor musste der Bus wegen des dichten Verkehrs anhalten, und ich hätte bequem aussteigen können.
Ich saß auf dem Dach des Busses, bückte mich nach meinem Koffer und warf dabei einen Blick zu den Fenstern im ersten Stockwerk.
Deutlich sah ich das Innere eines Raumes, der direkt in meiner Augenhöhe lag. Keine vier Meter trennten mich davon. Ich weiß noch, dass der Bus wie verrückt hupte, weil er rettungslos im Verkehr eingekeilt war. Ich hörte das Hupen wie im Traum, denn ich war in einer anderen Welt versunken.
Meine Finger umklammerten den Koffergriff. Durch meine aufgerissenen Augen strömte ein Bild in mein Gehirn. Das Bild des Raumes im ersten Stock.
Ich wusste sofort, dass es sich um den Raum handelte, in dem ich erwartet wurde. Woher ich das wusste, kann ich nicht sagen, denn zuerst hatte ich sie noch gar nicht gesehen.
Auf der rechten Seite der Bühne (ich hatte nämlich das Gefühl, in einem Theater zu sein) stand ein blumenbeladener Tisch. Dahinter saß ein kleiner Standesbeamter in gestreiftem Anzug. Außer ihm befanden sich noch vier andere Leute im Raum. Drei davon gingen auf und ab. Die vierte, eine riesige Dame mit Bart, saß auf einem Stuhl beim Fenster. Einer der Männer neigte sich vor, um ihr etwas zu sagen. Er hatte einen unwahrscheinlich langen Hals. Sein steifer Kragen war so lang wie ein Spazierstock. Der kleine, knochige Schädel saß wie ein Vogelkopf obenauf. Der zweite Mann war völlig kahl. Gesicht und Schädel waren mit blauen Tätowierungen überzogen. Er hatte Goldzähne, die wie Feuer aus seinem Mund blitzten. Der dritte und letzte schließlich war ein gut gekleideter junger Mann, der einen durchaus normalen Eindruck machte, bis er einen Moment näher ans Fenster kam. Da sah ich, dass aus seinem linken Ärmel anstelle der Hand ein Bocksfuß ragte.
Und dann ging alles ganz schnell. Die Tür schien sich geöffnet zu haben, weil sich alle Köpfe in die gleiche Richtung drehten. Im nächsten Augenblick hüpfte ein Etwas in Weiß durch den Raum. Wie ein Hund.
Aber es war kein Hund. Es lief aufrecht. Zuerst dachte ich an eine mechanische Puppe, weil sie so knapp vom Boden entfernt war. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, aber ich staunte über die lange Seidenschleppe, die das Wesen auf dem Teppich nachschleifte.
Beim blumengeschmückten Tisch hielt es an. Es gab Begrüßungslächeln und Verbeugungen. Dann stellte der Mann mit dem längsten Hals der Welt einen hohen Hocker vor den Tisch. Mit Hilfe des jungen bocksfüßigen Mannes hob er das weiße Ding hoch, dass es auf dem Hocker zu stehen kam. Das lange Seidenkleid wurde sorgfältig über dem Hocker drapiert, dass es auf allen Seiten den Boden berührte. Nun sah es aus, als stünde eine große, elegante Frau vor dem Tisch.
Und immer noch hatte ich das Gesicht nicht erblickt, obwohl ich wusste, wie es aussehen würde. Mir wurde todübel. Ich sank auf meinen Sitzplatz und verbarg mein Gesicht in den Händen.
Wann sich der Bus wieder in Bewegung setzte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich immer weiter und weiter fuhr, bis ich endlich die Endstation erreicht hatte. Mir blieb nichts übrig, als mit dem nächsten Bus wieder umzukehren. Inzwischen war mein Schreck einer merkwürdigen Erleichterung gewichen. Dass dieser Bus mich an die Schwelle meines Geburtshauses brachte, erfüllte mich mit seligem Heimweh. Noch stärker allerdings war meine Angst. Ich betete, dass der Bus nicht wieder am Cambridge Circus aufgehalten würde.
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