1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Odin versuchte es erneut. Er legte seine Hände auf und konzentrierte sich auf das Bild der Schlange. Abermals brannten seine Hände schmerzhaft, doch sie glühten nicht wie bei Hel auf. Er schlug auf die Wurzel und schrie verärgert.
„O–O–Onkel Odin…können wir wieder nach Hause gehen?“ fragte sie schüchtern.
Er drehte sich zum kleinen Mädchen, ihre Knie zitterten—vor Angst und Kälte. „Natürlich. Hel, komm zu mir“, er drückte sie zu sich. „Fenrir, Sleipnir, ihr lauft zurück, ja?“ Das Pferd wieherte und der Wolf bellte. Sie waren wohl froh, ein Rennen bestreiten zu können. Odin warf seinen Mantel um Hel und sich und im nächsten Augenblick waren sie wieder in Helheim bei der Hütte, die er gemeinsam mit Loki für sie errichtet hatte. „Hel, ich muss zurück nach Asgard. Ich komme morgen wieder. Magst du mir dann mehr von deinem Zauber zeigen?“ Das Mädchen nickte euphorisch. Odin warf sich den Mantel wieder um und fand sich in seiner Schlafkammer wieder.
„Wo warst du?“ fragte seine Frau Freya eifersüchtig.
„In Niflheim.“ Odin setzte sich auf das Bett und löste die Schnallen seiner Stiefel. Freya kniete sich vor ihn und half ihn aus den Stiefeln. „Die Wurzeln Yggdrasils sind gefüllt mit Seidr.“ Freya stand auf und schmiss die Stiefel beiseite. Sie lehnte sich an das Fenster und lachte. „Was ist so komisch?“ fragte er, doch sie lachte weiter ohne ihm Antwort zu geben. Er packte sie und drehte sie, sodass sie ihm in sein Gesicht sehen musste. „Ist es nicht so?“
Die Wanin grinste und schüttelte ihren Kopf langsam. „Wie, Gott aller Götter, denkst du, hast du die der Macht der Runen erlernt?“ Odin ließ seine Frau los und blickte an die Wand, wo Gungnir hing. „Sei kein Narr, Odin! Du hast dich nicht an dich selbst geopfert. Du spießtest dich an deinem Speer auf, und der Speer steckte…“
„…In Yggdrasil. Der Baum?“
„Alles Leben ist mit dem Baum verknüpft. Iduns Beeren sind direkte Früchte Yggdrasils, weshalb wir so jung bleiben“, erklärte Freya ihrem Mann.
„Und aus den Wurzeln nimmt der Baum seine Kraft…“
„Exakt! Aber…“, sie lief zum Nachttisch und schüttete Met in einen Becher, „das ist nicht alles. Lass mich dir verraten, was Seidr ist.“ Sie gab Odin den Becher voll Met und setzte sich aufs Bett. „Niflheim und Müspelheim. Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Eins liegt tief bei den Wurzeln, das andere ragt hoch über der Krone. Eins kalt und tot, das andere heiß und sprießend mit Leben—zu viel sogar, wenn man den Legenden deines Vaters glaubt. Wie auch immer. Tot ist Kälte, Leben ist Wärme. Leben, das von der Erde verschlungen wurde, sinkt hinab nach Niflheim. Dort entziehen die Wurzeln des Weltbaums das Leben, die Wärme, Niflheims. Das Leben sprießt hoch, über den Stamm, über die Äste, Zweige und Blätter, hoch hinaus bis zur Krone nach Müspelheim. Wärme und folglich Leben ist dort jedoch nicht geordnet, es ist nicht kontrolliert. Die Unmenge an Wärme ist nicht zu bändigen, und somit regiert Chaos als Erste. Etwas der Wärme aus Müspelheim fällt aber hinab auf die unteren Welten. Seidr nutzt diese Wärme. Deshalb ist es stärker, je höher man steht, je näher man an Müspelheim kommt.“
Odin leerte seinen Becher und schüttete sich nochmal voll. „Also ist es schwieriger, Seidr tiefer an Yggdrasils Wurzeln zu nutzen?“
„Es ist unmöglich! Das Leben in den Wurzeln ist zu sehr von Yggdrasil kontrolliert. Seidr funktioniert, weil die Wärme im Überschuss ist und keine Verknüpfung zur Esche hat.“
Odin leerte seinen Becher. „Du irrst dich. Es ist möglich.“
„Woher weißt du das?“ fragte Freya geschockt. „Hast du es etwa geschafft?“
„Nein. Aber Lokis Tochter Hel.“
Das grässliche Mädchen warf einen Stock, den ihr Wolfsbruder fing und zurückbrachte. Beim nächsten Wurf fing er den Stock jedoch nicht. Fenrir fletschte die Zähne und blickte grimmig auf die teleportierte Freya. „Ganz ruhig, Fenrir“, sprach Odin, der an Freyas Seite stand. Der Wolf leckte seine Nase und setzte sich dann auf die Hinterbeine. „Guter Junge.“ Odin streichelte ihm hinterm Ohr, was der Wolf mit einem Abschlecken der Hand bedankte. „Hel, ich habe Freya von deinen Zaubern erzählt. Sie glaubt mir nicht wie gut du doch darin bist.“
Hel lächelte und blickte auf die Wanin. Diese blickte entsetzt auf sie. Das Mädchen merkte dann, dass sie ihren Schleier nicht aufgesetzt hatte und wandte ihr Gesicht von den Göttern, bis sie es überzog. „T–t–tut mir Leid, dass ihr mich sehen musstet.“ Fenrir tapste zu seiner Schwester und leckte ihre verbrannte Hand, worauf sie kichern musste. Hel mit dem Schleier übergezogen drehte sich wieder zu den Göttern. „K–K–Kommt mit rein“, stotterte das Mädchen und ging mit gesenktem Haupt zu ihrem Haus.
„Ich dachte eher, wieder zu den Wurzeln zu gehen“, entgegnete Odin. Er reichte ihr die Hand.
„Wir sind gleich wieder zurück, Fenri‘.“ Sie nahm Odins Hand und er warf seinen Mantel um sie.
Die Luft fror in den Lungen. Freya zitterte und klammerte sich an Odin. Er nahm ihre kalte Hand und legte sie auf Hels Schulter. Die Wanin zuckte zurück, als sie dem heiß–glühenden Körper nahe kam. „Wie ist das möglich?“ flüsterte Freya fragend. Hel legte ihre schwarze und weiße Hand auf die Wurzel Yggdrasils und schon bald glühten diese hell auf. Eine Schlange kroch aus der berührten Stelle heraus. „Unmöglich!“ rief Freya entsetzt, „Unmöglich!“ Hel ließ ihre Hände fallen und blickte auf ihre Füße, schwarz verbrannt und weiß von Knochen wie ihre Hände. Freya ballte ihre Faust und wollte das Kind vernichten, doch sie vermochte kein Seidr nutzen. Es fehlte ihr an Kraft, an Wärme. „Wie kann dieses…dieses MONSTER hier Magie nutzen?“ schrie Freya und schmerzte Hel zu Tränen.
„Nicht weinen, Hel“, sagte Odin und legte seine Hände auf die Schultern des Mädchens. Sie verbarg ihre Hände hinter ihrem Schleier und wischte sich die Tränen ab. „Freya ist eifersüchtig. Sie ist wütend, dass sie es nicht kann. Magst du es ihr erklären, damit sie nicht mehr böse ist?“
Hel schluchzte nickend. Sie legte ihre Hände wieder auf die Wurzel, aus dem Glühen kroch abermals eine Schlange heraus. „Ich…Ich kann auch andere Tiere erschaffen“, sagte das Mädchen. „Ich denke an das, was ich machen will, und dann mach ich es einfach“, und sie kreierte ein Eichhörnchen, welches umgehend hochkletterte.
„Tiere…ist das alles? Kannst du Götter schaffen? Kannst du einen Gott kreieren?“ sagte Freya mit erhobener Nase herabblickend. Hel schaute auf Odin, der mit einem Nicken sein Einverständnis gab. Das Mädchen legte ihre Hände auf die Wurzel. Lange glühten sie, sie strich über die Wurzeln entlang. Sie hob ihre Hände und ein Mann rollte von der Wurzel herab. „Un—“, verstummte die Wanin, bevor sie vor dem nackten Mann kniete, der auf dem Boden kauerte. Sie strich über seine Brust und Arme.
„Vili, mein Bruder“, sagte Odin, der ebenfalls auf die Knie fiel. Er strich die braunen Haare des Mannes zur Seite und blickte in dessen blaue Augen. „Nein, es ist Ve.“ Der Ase hob ihn hoch und drückte ihn tränengerührt fest an sich.
„Ich–Ich habe an dich gedacht, O–O–Odin“, stotterte Hel.
„Es war nicht dein Bruder, Odin“, sagte Freya, während sie auf dem Bett in ihrer Schlafkammer lag. Odin lief nervös auf und ab. „Vili und Ve sind im Krieg für dich gestorben. Was immer sie kreiert hat, ist kein Gott, geschweige denn dein Bruder.“
„Du fürchtest dich vor ihr. Du hast Angst, dass sie tatsächlich Götter erschaffen hat.“
„Nur Götter können Götter machen!“ fauchte sie und strich sich über den Bauch. „Sie kann nur Tiere kreieren. Es sind auch nur Tiere, hörst du: Nur Tiere…Tiere, die unser Aussehen haben! Mehr nicht!“
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