Der Mensch bewegte und rührte sich nicht, um irgend jemand zu begrüßen. Sein Anblick bewog Peter Wain, seine erste, unruhige Frage zu stellen.
„Ist jemand drin?“ fragte er.
„Nur keine Aufregung, Peter“, kicherte sein Onkel. „Sein Sekretär Wilton ist drin bei ihm – das dürfte genügen. Ich glaube. Wilton gönnt sich überhaupt keinen Schlaf mehr, so sehr bewacht er Merton. Er taugt mehr als zwanzig Wächter. Und er ist so schnell und lautlos wie ein Indianer.“
„Na, das mußt du freilich am besten wissen“, lachte der Neffe. „Ich erinnere mich noch an deine Erzählungen aus den Grenzkriegen gegen die Indianer und die Indianerschliche, die du mich gelehrt hast, wie ich noch ein Junge war. Aber in meinen Indianerbüchern haben die Indianer merkwürdigerweise immer schlecht abgeschnitten.“
„Aber nicht in Wirklichkeit“, erwiderte der alte Soldat ernst.
„Wirklich nicht?“ fragte der höfliche Blake. „Ich habe immer gemeint, dass sie gegen unsere Feuerwaffen wenig ausrichten konnten.“
„Ich habe einmal einen Indianer gesehen, der unter dem Feuer von hundert Gewehren stand und nichts hatte als ein kleines Skalpmesser. Trotzdem tötete er einen Weißen, der an meiner Seite auf der Spitze eines Forts stand.“
„Ja, wie denn“, fragte der andre.
„Er warf es,“ erwiderte Crake – „warf es wie der Blitz, bevor man einen Schuß abgeben konnte. Ich weiß nicht, woher er den Trick hatte.“
„Nun, hoffentlich hast du ihn nicht von ihm gelernt“, sagte der Neffe lachend.
„Mir scheint, die Geschichte ist nicht ohne Moral“, sagte Pater Brown nachdenklich. Während sie sprachen, kam der Sekretär Wilton aus dem inneren Zimmer und wartete; es war ein blasser, blondhaariger Mensch mit viereckigem Kinn und ruhigen Augen, die an einen Hund erinnerten; man konnte sich einbilden, dem geraden Blick eines Hofhundes zu begegnen.
Er sagte nur: „Herr Merton wird Sie in etwa zehn Minuten empfangen“, aber das genügte, um die plaudernde Gruppe an den Aufbruch zu mahnen. Der alte Crake hatte Eile, und sein Neffe begleitete ihn und den Anwalt, so dass Pater Brown einen Augenblick mit dem Sekretär allein blieb. Denn der Negerriese am anderen Ende des Zimmers wirkte kaum als lebender Mensch, er saß unbeweglich da und kehrte ihnen den Rücken.
„Die ganze Einrichtung macht wohl einen komplizierten Eindruck“, bemerkte der Sekretär. „Sie haben vermutlich die Geschichte des Daniel Boon gehört und wissen, warum wir den Chef nie lange allein lassen dürfen.“
„Aber ist er jetzt nicht allein?“ fragte Pater Brown.
Der Sekretär sah ihn mit seinen ernsten grauen Augen an.
„Fünfzehn Minuten lang“, sagte er. „Eine Viertelstunde von den vierundzwanzig. Länger bleibt er nicht allein; und darauf besteht er, aus einem merkwürdigen Grunde.“
„Und was für ein Grund ist das?“ fragte der Gast.
„Der Koptenpokal“, sagte der Sekretär. Er hörte nicht auf, dem Pater ins Auge zu sehen, aber sein Mund, der eben noch ernst gewesen war, wurde bitter. „Vielleicht haben Sie den Koptenpokal vergessen – aber er vergißt ihn nie, weder ihn noch sonst etwas. Er vertraut ihn keinem von uns an. Irgendwo und irgendwie ist er in dem Zimmer dort eingeschlossen, so dass nur er ihn finden kann. Er nimmt ihn nur heraus, wenn wir alle draußen sind. Wir müssen also diese Viertelstunde riskieren, während er dasitzt und ihn anbetet; vermutlich die einzige Anbetung, zu der er sich aufschwingt. Aber eigentlich ist die Gefahr nicht groß. Ich habe dieses Haus zu einer Falle gemacht, und selbst dem Teufel würde es schwer fallen, hinein oder jedenfalls herauszukommen. Wenn dieser verdammte Daniel uns einen Besuch abstattet, wird er ziemlich lange hierbleiben, das schwöre ich Ihnen! Ich sitze hier während der fünfzehn Minuten wie auf Nadeln, und sowie ich einen Schuß oder ein anderes verdächtiges Geräusch höre, drücke ich auf diesen Knopf, und ein elektrischer Strom lädt die Gartenmauer, so dass jeder, der hinausgehen oder sie überklettern will, sofort den Tod findet. Übrigens kann es keinen Schuß geben, denn dies ist der einzige Eingang, und das Fenster, an dem er sitzt, ist oben auf einem Turm, der so glatt ist, als wäre er geölt. Und außerdem sind wir hier natürlich alle bewaffnet. Wenn Daniel wirklich in das Zimmer käme, würde er es lebendig nicht verlassen.“
Pater Brown blinzelte nachdenklich; er blickte auf den Teppich. Dann sagte er plötzlich mit einem Ruck:
„Sie nehmen es mir doch nicht übel? Mir ist eben etwas eingefallen. Es betrifft Sie.“
„In der Tat“, erwiderte Wilton. „Was meinen Sie?“
„Sie haben nur eine einzige Idee im Kopf,“ sagte Pater Brown, „und Sie müssen mir verzeihen, wenn ich sage, dass es mehr die Idee ist, Daniel Boon zu fangen als Brander Merton zu schützen.“
Wilton fuhr zusammen und starrte seinen Gast an; langsam formte sich auf seinen Lippen ein sonderbares Lächeln.
„Wieso haben Sie – wie kommen Sie darauf?“ fragte er.
„Sie sagten eben, wenn Sie einen Schuß hörten, könnten Sie den Feind auf der Flucht durch den elektrischen Strom töten. Sie haben sich doch vermutlich klargemacht, dass der Schuß für ihren Chef tödlich werden könnte, bevor der Strom für seinen Feind tödlich würde? Ich meine damit nicht, dass Sie Herrn Merton nicht schützen werden, wenn es in ihrer Macht steht, sondern dass es Ihnen erst in zweiter Linie wichtig ist. Die Vorbereitungen sind etwas kompliziert, wie Sie selbst sagen und gehen wohl auf Sie zurück. Aber Sie scheinen auch eher dazu angetan zu sein, einen Mörder zu fangen, als einen Menschen zu retten.“
„Hochwürden“, sagte der Sekretär, dessen Stimme sich beruhigt hatte, „Sie sind verdammt klug – aber sonderbarerweise sind Sie noch etwas mehr. Irgendwie gehören Sie zu den Leuten, denen man die Wahrheit sagen möchte – und außerdem wird man es ihnen ohnedies erzählen, denn man neckt mich ja bereits damit. Man sagt allgemein, dass ich eine fixe Idee habe – nämlich den Verbrecher zur Strecke zu bringen – und vielleicht stimmt das auch. Aber ich werde ihnen jetzt etwas sagen, was sonst niemand weiß: ich heiße in Wirklichkeit John Wilton Horder.“ Pater Brown nickte, als sei ihm nun alles klar, doch der andere fuhr fort:
„Dieser Mensch, der sich Daniel Boon nennt, hat meinen Vater und meinen Onkel getötet und meine Mutter zugrunde gerichtet. Als Merton einen Sekretär suchte, nahm ich den Posten an. Ich dachte, wo der Koptenpokal sei, würde sich auch der Verbrecher früher oder später einfinden. Aber ich wußte nicht, wer es war, und konnte also nur auf ihn warten. Ich hatte die feste Absicht, Merton treu zu dienen.“
„Ich verstehe“, sagte Pater Brown sanft, „aber ist es nicht eigentlich an der Zeit, dass wir hineingehen?“
„Ja gewiß“, erwiderte Wilton; er war wieder zusammengefahren, und der Priester schloß daraus, dass er sich einen Augenblick wieder seinen Rachegelüsten überlassen hatte. „Gewiß – gehen Sie nur hinein.“
Pater Brown ging geradeswegs in das innere Zimmer. Was folgte, waren keine Begrüßungen, sondern nur ein totes Schweigen. Einen Augenblick später erschien der Priester wieder in der Türe.
Im selben Augenblick bewegte sich der stumme Wächter, der an der Tür saß – es sah aus, als sei ein Riesenmöbel lebendig geworden. Etwas in der Haltung des Priesters hatte wie ein Signal gewirkt. Sein Kopf hob sich vom Licht des Fensters ab, aber sein Gesicht blieb im Schatten.
„Jetzt werden Sie wohl auf den Knopf drücken müssen“, sagte er mit einem Seufzer.
Wilton schien mit einem Ruck aus seinen wilden Grübeleien zu erwachen und sprang auf. Seine Stimme überschlug sich.
„Es war kein Schuß!“ rief er aus.
„Ja“, sagte Pater Brown, „es kommt darauf an, was Sie unter einem Schuß verstehen.“
Читать дальше