Die letzten zwei Stunden war ich damit beschäftigt, mir das Wohnheim und die Umgebung genau anzusehen. So wollte ich nicht nur in Erfahrung bringen, wie dieser Wichser ins Haus gelangen kann, ohne jemandem aufzufallen, sondern auch, wie wir im Notfall von hier verschwinden können.
Auch, wenn ich es nicht gerne mache, doch ich muss auch das in Betracht ziehen. Allerdings sind alle Türen nachts abgeschlossen, sodass ich mir deswegen keine Sorgen machen muss. Doch tagsüber sieht das anders aus. Und das ist es, was mir Sorgen bereitet. Er kann sich durchaus ins Haus schleichen und sich hier verstecken. Gelegenheiten gibt es mehr als genug.
Ich will gerade um die Ecke biegen, als ich mit jemanden zusammenstoße. Schnell blicke ich auf die Person, die dicht vor mir steht.
Sofia , schießt es mir durch den Kopf, nachdem ich sie erkannt habe.
Auf den ersten Blick merke ich, dass sie irgendetwas beschäftigt. Ihr Blick huscht panisch von einer Seite zur anderen und ihr Mund ist ein Stück geöffnet. Damit sie nicht fällt haben sich meine Hände automatisch um ihre Handgelenke gelegt und drücke sie gegen die Wand.
Aufmerksam beobachte ich sie, bis sie sich so weit gefangen hat, dass sie auf mich aufmerksam wird.
„Alles klar bei dir?“, frage ich sie und reiße sie so aus ihrer Erstarrung.
Es dauert einen Augenblicklich, doch schließlich richtet Sofia ihre komplette Aufmerksamkeit auf mich. Wir sind uns so nah, dass sie sicherlich meinen Atem auf ihrer Haut spüren kann.
„Sicher“, bringt sie schließlich stotternd hervor.
Ich lasse sie keine Sekunde aus den Augen und kann so jede Reaktion in ihrem Gesicht erkennen.
„Du solltest vorsichtiger sein“, erkläre ich ihr.
Dabei ist meine Stimme so leise, dass nur sie mich verstehen kann.
Ich bin mir sicher, dass sie das unauffällig machen will, dennoch merke ich, dass sie ein Stück zur Seite geht, um so den Abstand zwischen uns zu vergrößern.
„Danke“, entgegnet sie freundlich.
Allerdings bin ich mir sicher, dass sie überhaupt nicht freundlich sein will. Ihre Körpersprache gibt mir zu verstehen, dass sie gerade auf der Flucht ist. Und ich würde gerne wissen, was der Grund dafür ist, auch wenn ich es mir bereits denken kann.
Ich muss mich zusammenreißen, damit ich nicht ausraste. Dieser Wichser befindet sich bereits in ihrem Leben und ich kann gerade nichts dagegen unternehmen, außer sie nicht mehr aus den Augen zu lassen.
In letzter Sekunde schaffe ich es, dass sich meine Muskeln entspannen und sie daher nichts von dem mitbekommt, was hier gerade los ist.
„Ich hoffe, in dem Brief heute Morgen stand etwas Nettes.“
Ein freches Lächeln zieht sich über mein Gesicht. Mir ist bewusst, dass ich jetzt die Chance habe wenigstens zu erfahren, in welche Richtung dieser Brief ging. Doch wenn ich es nicht richtig anstelle, wird sie sich verschließen, da sie mich nicht kennt. Daher kann ich nur hoffen, dass sie die gleiche Verbindung zwischen uns spürt, die ich auch merke.
„Oh … ähm … ja“, stottert sie.
Mir ist bewusst, dass sie lügt. Und das lässt mich noch wütender werden. Wenn ich dieses Arsch in die Hände bekomme, werde ich ihn umbringen. Niemand legt sich mit meiner Familie an. Und schon gar nicht mit Sofia.
„Schöne Post bekommt doch jeder gerne“, gebe ich dennoch von mir. Dabei tue ich so, als hätte ich nichts von dem mitbekommen, was sie beschäftigt.
Ich erkenne die Gänsehaut, die sich auf ihrem Körper bildet. Keine Sekunde lasse ich sie aus den Augen. Ich kann beinahe erkennen, wie ihr Herzschlag sich erhöht. Und das ist etwas, worüber ich mich freue.
Auf diese Weise weiß ich nämlich, dass sie es spürt.
„Ich muss weiter. Meine Freundin wartet schon auf mich“, flüstert sie, um meine Reaktion auf sie etwas abzumildern.
„Ich wünsche euch noch einen schönen Abend“, gebe ich zurück, auch wenn ich weiß, dass es gelogen ist, was sie da gerade sagt. Doch das lasse ich mir nicht anmerken.
Einen Moment sieht sie mich noch an, bevor sie verschwindet.
Ich sehe ihr nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.
Seit meiner Ankunft in Dallas ist es ruhig gewesen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich froh darüber sein soll, oder nicht. Und das aus dem einfachen Grund, weil ich nicht weiß, ob es ein gutes Zeichen ist.
Wenn man mal von dem Brief an ihrer Windschutzscheibe absieht.
Zu gerne würde ich wissen, was darin stand. Doch sie kennt mich nicht, daher glaube ich kaum, dass sie es mir sagen wird, wenn ich sie danach frage. Außerdem hat sie bei unserer letzten Unterhaltung schon deswegen gelogen. Denn soviel kann ich sagen. In dem Brief stand nichts Gutes drin.
Jetzt muss ich nur noch herausfinden, ob er etwas damit zu tun hat, oder nur ein Ex-Freund sich aufgeregt hat.
Bei der Vorstellung daran, dass es da irgendwo einen Ex-Freund gibt, spanne ich mich automatisch an. Dabei habe ich überhaupt keinen Grund um eifersüchtig zu sein und normalerweise bin ich das auch nicht. Doch ich weiß, dass gerade nichts normal ist. Und es das wahrscheinlich auch nicht so schnell wieder werden wird. Daher weiß ich, dass es jetzt keinen Sinn ergibt, wenn ich mich damit auseinandersetze.
Stattdessen muss ich mir überlegen, welchen Schritt ich als Nächstes machen soll. Mit Colin kann ich nicht darüber sprechen. Für ihn steht die Sicherheit seiner Schwester an erster Stelle. Auch mir geht es so. Allerdings kann ich mich nicht einfach an sie heften.
Früher oder später würde sie misstrauisch werden und das könnte ich verstehen. Ich muss es anders angehen. Und vielleicht habe ich so die Gelegenheit ihr näherzukommen und sie besser kennenzulernen. Ich will ihr diese Sache, und auch den Start in ihrer Familie, so leicht wie möglich machen.
Als ich mein Zimmer verlasse, sehe ich, dass ihre Mitbewohnerin ebenfalls gerade verschwindet. Sie hat ein Handy an ihr Ohr gedrückt und scheint nichts von ihrer Umwelt mitzubekommen. Nach einigen Schritten bleibe ich stehen und sehe ihr nach, während sie in einem der anderen Räume verschwindet. Da ich mich umgesehen habe weiß ich, dass es nur ein Abstellraum ist.
Kaum hat sie die Tür wieder hinter sich geschlossen sehe ich zu der, von der ich ausgehe, dass Sofia sich hinter ihr befindet. Wenn ich eine Chance habe, mich ihr zu nähern, ist das jetzt. Daher ergreife ich die Gelegenheit und gehe auf sie zu.
Laut klopfe ich, nachdem ich sie erreicht habe und warte darauf, dass sie die Tür endlich öffnet.
„Seit ihr schon fertig?“, höre ich sie auf der anderen Seite rufen. Ich brauche nicht großartig darüber nachzudenken um zu wissen, dass sie ihre Freundin damit meint.
„Hi“, begrüße ich sie, als sie nach einigen Sekunden die Tür geöffnet hat.
Überrascht sieht sie mich an, wobei ich erkennen kann, dass ihr Blick an meinen Lippen klebt. Doch dann hat sie sich bereits wieder gefangen und sieht in meine Augen.
In diesem Moment würde ich sie am liebsten ins Auto setzen und in Sicherheit bringen. Und ehrlich gesagt verstehe ich auch nicht, wieso ich das nicht machen soll. Doch deswegen werde ich mich nicht mit meinen Eltern streiten. Sollte sie sich allerdings in Gefahr befinden, werde ich keine Sekunde mit mir hadern und sie sofort nach Hause bringen.
„Hi“, erwidert sie, wobei ihre Stimme nicht mehr als ein leises Quietschen ist. Schnell räuspert sie und wiederholt sich, was es aber auch nicht besser macht.
„Hast du jemanden erwartet?“
„Ich dachte, dass meine Mitbewohnerin mal wieder ihren Schlüssel vergessen hat“, antwortet sie und versucht dabei ihre Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich einer Frau diese Reaktion entlocke. Doch es ist das erste Mal, dass ich mich darüber freue, weil ich es auch bei ihr schaffe.
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