Der Raum hatte mir nie sonderlich gut gefallen. Die grauen Marmorfliesen, der kolossale asymmetrische Bürotisch aus Glas und die überwiegend in Schwarz und Chrom gehaltenen Einrichtungsgegenstände erweckten den Eindruck von Gefühllosigkeit und berechnender Kälte. Da halfen selbst die hohen Fenster nichts, durch welche die Örtlichkeit von früh bis spät von sanftem Licht durchflutet wurde.
Mit derselben nackenhaaraufstellenden Ausstrahlung wie das Mobiliar saß Herr Urban auf seinem gewaltigen Lederchefsessel, dessen beißender Geruch mir in der Nase brannte.
Ein nachtschwarzes Hemd, darüber ein anthrazitfarbenes Jackett und eine silberne Krawatte verliehen Herrn Urban eine autoritäre wie professionell-elegante Ausstrahlung. Selbstsicher hielt er einen silber-schwarzen Kugelschreiber in der linken Hand, während er aufmerksam einen Brief las.
»Sie wollten mich sprechen«, sagte ich nach einigem Zögern und trat ein. Ich versuchte, gefestigt zu klingen. Zu meinem Leidwesen funktionierte dies nicht einmal annähernd, wie von mir gewollt.
Er hob den Blick an.
Das dunkelbraune zu einem lockeren Seitenscheitel gekämmte Haar glänzte im Licht der kleinen Deckenspots.
»Frau Findinger hat sich bei mir beschwert.«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Demgemäß sagte ich einmal gar nichts.
Mit triefender Selbstgefälligkeit lehnte er sich zurück. Das Knarzen des Ledersessels bezeugte dabei gleichermaßen von Reichtum wie seine chromfarbene große Uhr, welche selbstgefällig unter seinem Hemdärmel hervor blitzte.
»Hätten Sie die Güte, mir zu erklären, was zwischen Ihnen und Frau Findinger vorgefallen ist?« In seiner Äußerung schwang derselbe gereizte Ton, mit welchem ich stets von meinen Mitmenschen bestraft wurde, wenn ich nicht schnell genug reagierte.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich verunsichert zurück. »Den ich allerdings selbst ausgebessert habe.«
Er wölbte eine Braue. »Und sonst?«
Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.
Ein theatralisches Seufzen drang aus seiner Kehle. »Entweder hat Frau Findinger heillos übertrieben.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher er mich ungleich abschätziger musterte. »Oder aber Sie, Frau Hirter, bagatellisieren.«
Seine Stimmlage deutete unverkennbar Letzteres an.
»Ich verstehe nicht –«
»Sie waren es doch, die meinte, Frau Kaufmann hätte Ihnen Ihren Posten weggenommen. Oder liege ich da falsch?«
Mir wurde es eine Spur kälter.
»Das stimmt«, gab ich zu. Das Zittern in meiner Stimme versuchte ich erst gar nicht mehr zu unterdrücken. Nun ging es einzig darum, nicht in Tränen auszubrechen.
»Frau Kaufmann hat sich in der Datenverarbeitung und Rechnungslegung äußerst bewährt. Sie ist ein unschätzbarer Teil dieses Teams.« Seine Augen nahmen einen funkelnden Ausdruck an. »Sie, meine Gute, haben sich jedoch kein einziges Mal bewiesen.« Wort zu Wort wurde seine Aussprache härter, beißender, kälter. »Und solange Sie sich nicht beweisen, verbiete ich mir derlei abschätzige Töne von einer drittklassigen Mitarbeiterin!«
…
Mein Herz zerriss. Meine Seele starb. Mein letzter Funken Lebenswille wurde vernichtet.
…
»Einen zweiten Fehltritt ihrerseits«, fuhr Herr Urban kühl fort. »Dulde ich nicht. Entweder passen Sie sich meinem Team an und bringen endlich Leistung oder ich muss Sie entlassen.« Es folgte eine weitere Pause, in welcher mich ein leichter Schwindel erfasste. »Das liegt ganz bei Ihnen.«
Gänsehaut jagte mir über den Rücken bis in den Hintern.
»Ja.«
Hatte ich das gesagt?
Hatte ich tatsächlich die Kraft aufgebracht, etwas zu erwidern?
…
Mein Verstand leer gefegt drehte ich mich um und ging los.
Ehe ich die Tür des Büros hinter mir zumachte, hörte ich Herrn Urban nachrufen: »Übermäßiges Selbstvertrauen macht noch lange keinen guten Mitarbeiter aus.«
Es war, als zöge jemand mir den Boden unter den Füßen weg.
…
Wo hatte ich Selbstvertrauen?
Einen mittlerweile schmerzhaft angewachsenen Kloß im Hals hinunterschlucken versuchend, eilte ich ins WC. Keine Sekunde, nachdem ich mich in die hinterste Toilette eingesperrt hatte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Ich konnte nicht mehr.
Ich konnte einfach nicht mehr.
Wozu war ich auf der Welt? Wozu tat ich mir dies alles an? Ich war ohnehin für nichts und niemanden zu gebrauchen! Ich war eine einzige Bürde!
Von Weinkrämpfen durchgeschüttelt lehnte ich mich an die kalte Fliesenwand. Diese beißenden Seelenschmerzen umschlangen mich, ließen mich hoffnungslos nach Luft japsen. Eine unsichtbare Hand schien gegen meinen Brustkorb zu drücken – raubte mir Kraft und Willen.
Ich wollte nicht mehr.
Ich wollte einfach nicht mehr.
Konnte ich nicht tot umfallen?
Es wäre viel leichter … so viel leichter. So einfach. Einfach umfallen. Wäre das möglich? Konnte das bitte möglich sein?
Bitte … bringt jemand mich doch einfach um …
…
Irgendwann versiegten meine Tränen.
In meiner Seele eine schwere Leere innewohnend trat ich zum Waschbecken, drehte das Wasser auf und wusch mir das Gesicht. Während ich mich mit Papierhandtüchern abtrocknete, breitete eine eigenartige kalte Leichtigkeit sich in mir aus. Sie startete in meinem Herzen und fand in meinem Kopf ein jähes Ende.
Ich blickte in den Spiegel.
Das erste Mal war ich dankbar für meine Schminkfaulheit. Dadurch brauchte ich mich wenigstens nicht um verschmierte Wimperntusche zu sorgen.
Andererseits hätte in dieser Situation ein wenig Make-up nicht geschadet …
Ich sah unwahrscheinlich blass aus. Selbst meinen Lippen waren sämtliche Farben abhandengekommen.
Ich verscheuchte den Gedanken.
Was tat es schon zur Sache, wie ich aussah? Schließlich interessierte sich sowieso niemand für mich.
Nachdem ich dreimal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte ich mich auf den Weg zurück ins Büro. Dabei erhaschte ich einen Blick auf die große Wanduhr im Foyer.
14:15 Uhr.
In fünfzehn Minuten endete meine Schicht.
Gut.
Ich trat in den Dienstraum, versuchte, die mich anstarrenden Kollegen sowie Annas und Saskias Grinsen zu ignorieren, und setzte mich an meinen Tisch.
Wann war Saskia zurückgekommen?
Üblichweise arbeitete sie freitags auf der anderen Gebäudeseite.
»Und? Wird Saskia jetzt rausgeworfen«, zog Annas sarkastisch klingende Frage mich aus meinen Überlegungen. »Damit das dumme Prinzesschen die Wunschstelle erhält?«
Anstatt zu reagieren, sah ich aus dem Fenster.
Der Himmel zeigte dunkelgraue Wolken … Sturm und Blitze.
Das hatte mir gefehlt!
Da mein Wagen bezüglich eines Loches im Endtopf in der Werkstätte stand, darüber hinaus kein Leihwagen zur Verfügung gewesen war, war ich heute zu Fuß unterwegs.
Natürlich konnte ich mir ein Taxi rufen – unglücklicherweise riss die Reparatur ein gewaltiges Loch in meine Rücklagen, wodurch mir gar nichts anderes übrig blieb, denn auf sämtliche unnötigen Bequemlichkeiten zu verzichten und eisern zu sparen.
»Du machst das genau richtig, Kitty«, vernahm ich Saskias Kratzstimme.
Irgendwie gelange es mir, mich davon abzuhalten, mich zu ihr zu drehen.
»Den Mund halten, meine ich.«
»Ein Wunder, dass sie wenigstens das hinkriegt«, flötete Anna. »Aber Dumme brauchen bekanntlich immer etwas länger, bis sie verstehen.«
»Da hilft manchmal wohl nur die Holzhackermethode!«
Darauf folgte ein lautes, mir Tränen in die Augen treibendes Lachen.
Eigenartigerweise fühlte ich dennoch nahezu keinen Schmerz mehr.
Hatte ich es endlich geschafft und meine Empfindsamkeit überwunden? Wurde ich härter? Hatten Herrn Urbans Äußerungen mir Heilung gebracht?
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