Heißkalte Schauer veranlassten ihn, seine Umarmung zu verstärken.
Seine bedächtig gleitende Zunge gelang es weder, Liza aus ihrer Inaktivität zu reißen noch ihr Zittern zu verringern. Dieses einerseits niedliche, andererseits erregende Verhalten untermauerte seine Vermutung ihrer Unberührtheit.
Was sonst hätte sie dergestalt eingeschüchtert, denn ihr erster Zungenkuss?
Solchermaßen plötzlich wie ein neuer Donner über den Äther grollte, wurde er sich eines weiteren unglaublichen Details bewusst: Kein anderer Mann vor ihm hatte Liza berührt! Keine anderen Lippen hatten ihre liebkost. Kein anderer Mann hatte Liza jemals angefasst!
Einzig und allein ihm erwies sie die Ehre … einzig und allein bei ihm ließ sie es geschehen. Einzig und allein bei ihm. Bei ihm!
Sein Herz schlug Salti.
Sie ließ es wahrhaftig zu … presste sich abermals fester an ihn!
Hatten das Gewitter, die entfesselten Glücksgefühle und Lizas Lippen bereits den Großteil seines Verstandes hinfortgefegt, tat ihr blumiges Parfum noch das Übrige, um ihn vollends zu betäuben und seine Glut nach ihr ins Unermessliche zu steigern.
Um seinen Kuss intensivieren zu können, vergrub er seine linke Hand in ihrem Nacken.
Er erforschte sie weiter – zögerlich, behutsam, langsam. Ab und an ließ er für einen kurzen Augenblick von ihr ab, aus dem einzigen Grund sie darauf beträchtlich intensiver zu küssen, zu verwöhnen, zu entdecken.
Seufzte sie?
Er war sich nicht sicher – zu laut prasselte der Regen, zu wild schlug sein Herz …
Grundgütiger!
Kein Kuss zuvor hatte sich je solchermaßen schön angefühlt. Keine Berührung zuvor hatte sich solchermaßen verbindend angefühlt. Niemand zuvor hatte ihm solcherlei Emotionen zu entlocken vermocht.
Mit einer jeden verstreichenden Sekunde fühlte er sich freier, erleichterter, glücklicher.
Glücklich.
Wann hatte er dieses Gefühl das letzte Mal empfunden?
Er wusste es nicht mehr. Und es interessierte ihn nicht mehr. Das Einzige, das er begehrte, war der Stillstand der Zeit, damit dieser glückselige Moment niemals mehr ein Ende fand.
Ein nicht zu beschreiben vermögender haarsträubender Donnerschlag entriss ihm kurzerhand diese kostbare Emotion und brachte ihn dazu, brutal zusammenzucken wie nach Mut zu beten.
Weshalb konnte dieses schreckliche Gewitter kein jähes Ende finden? Weshalb musste dies ausgerechnet heute passieren?
Verzweiflung umschlang ihn.
Wenn er Liza nun losließe, würde sie sogleich verschwinden? Würde sie sich von ihm abwenden?
Er wollte sie nicht loslassen … er wollte sie keine Sekunde mehr missen! Zu sehr dürstete ihn, ihre Seele zu kosten, ihre Liebe zu spüren, in ihr Herz zu sehen.
Allmächtiger Gott!
Er begehrte sie mit Haut und Haar …
Der an Heftigkeit zunehmende Wind und die zusehends lauter werdenden Entladungen des Himmels nötigten ihn letztendlich, zögerlich von Lizas zuckersüßen Lippen abzulassen.
»Jan.«
Ihre gepresst-flüsternde Stimme brachte seine Welt erneut ins Wanken.
Sein Name aus ihrem Mund – so zärtlich, scheu, verunsichert – als spräche sie ihn zum ersten Mal aus.
Ein unvorstellbarer Drang, sie wieder an sich zu drücken und weiter zu küssen, raubte ihm schier den Atem.
Schluckend blickte er in ihre mit Tränen gefüllten blauen Augen. So hell sie leuchteten, vollbrachten sie nicht, eine ihm eiskalte Schauer auslösende Verzweiflung zu verbergen.
Was war geschehen?
Lag es an seinem Kuss? Lag es an dem Gewitter? Lag es an seinem Buch?
Hatte er eben den größten Fehler seines Lebens begangen? Hätte er Liza nicht küssen dürfen?
Niederzwingende Verzweiflung vermischt mit Trauer und Panik übermannte ihn – trieb brennende Tränen aus seinem aufgebrachten Inneren hervor.
Hatte er sich mit dieser Tat etwa alles verdorben?
Bei Gott!
Wenn dies tatsächlich der Fall war, was sollte er dann tun?
Kapitel 22 – Keine Kraft mehr
»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll!«
Anna hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Die Haare trug sie heute perfektionistisch hochgesteckt. Mit ihren rehbraunen Augen, den einzelnen gewellten ihr ebenmäßiges Gesicht umrahmenden Strähnen, den roten Lippen und den farblich dazu passenden lackierten Fingernägeln wirkte sie wie eine Hollywood-Diva des letzten Jahrhunderts. Und genauso, wie diese mit ihrem Personal umzugehen pflegte, ließ sie mich heute wieder einmal spüren, wie unbedeutend und unfähig ich für das Team war.
»Der Betrag kommt in die rechte Spalte! Bist du echt so bescheuert?« Abgesehen von Annas wutentbrannten Stimme herrschte Totenstille im Büro. Entweder fühlten auch die anderen Kollegen sich eingeschüchtert, oder wollten diese bloß keine Beschimpfung versäumen, um meine Dummheit in der Mittagspause dann nochmals lang und breit durchkauen zu können.
Ich wusste es nicht.
Ich wusste gar nichts mehr.
Ich versuchte lediglich, meine Tränen zurückzuhalten.
»Ich verstehe nicht, wie du diesen Job überhaupt hast erhalten können!«, zeterte sie. »Es gibt so viele fähige Arbeitslose … aber gerade du bekommst eine Chance!«
Verkrampft hielt ich den Blick auf das Kassabuch gerichtet. »Ich habe den Betrag irrtümlich in die falsche Spalte eingetragen.«
Ich wusste, ich hatte einen Fehler begangen. Aber ebenso gut wusste ich, wohin der Betrag gehörte …
»Ja, sicher doch!« Ihre keifend ausgesprochene Entgegnung triefte vor Sarkasmus. »Du weißt ja so gut Bescheid.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher sich erbarmungsloser Zorn auf ihre Gesichtszüge ausbreitete. »Versuche erst gar nicht, dich hier mit bescheuerten Aussagen herauszuwinden! Der Fehler ist da. Ich habe ihn selbst gesehen!«
…
Ich wollte ihn doch ausbessern!
»Ich habe mich geirrt«, versuchte ich verzweifelt zu erklären. »Weil ich eine Zeile weiter oben einen Eingangbetrag –«
»Das interessiert mich einen Scheißdreck!«
Ich zuckte zusammen.
»Es reicht mir! Endgültig! Ich habe lange genug zugesehen. Ich habe mir deine erbärmlichen Ausreden lange genug angehört und dich wieder und wieder korrigiert. Die ganze Zeit habe ich dir geholfen!«
Wie wahnsinnig begann mein Herz zu rasen, infolge dessen ich unwillkürlich nach Luft schnappte.
»Und du?!«, fuhr sie fauchend fort – es jagte mir heiß und kalt den Rücken hinunter. »Du hast nichts anderes zu tun, als deine Dummheit mit billigen Ausreden zu verschleiern!« Eine weitere Pause folgte – eine Pause, in der ich einzig das Rauschen meiner Ohren vernahm. »Ich habe mich die ganze Zeit hinter dich gestellt! Wenn ich unkollegial gewesen wäre, dann hätte ich dem Chef deine katastrophale Arbeit schon vor einem halben Jahr unter die Nase gerieben!«
Verzweiflung, Furcht und Wut schnürten mir die Kehle zu.
Ja, ich hatte Fehler gemacht … ein paar dumme Fehler – aber konnten diese nicht meine gesamte Arbeit schlechtmachen!
Zögerlich suchte ich ihre Augen.
Sie funkelten wie die eines Dämons.
»Was siehst du mich so an?!« Wie immer machte sie keinen Hehl daraus, ihre enorme Abneigung gegen mich durch abschätzige Blicke zum Ausdruck zu bringen. »Willst du mir neue Ausreden vorkauen?! Glaubst du echt, irgendjemand hier –« Sie vollführte eine ausladende Geste mit den Armen. »Kauft dir das noch ab?!«
…
Ausreden … Stets sprach sie von Ausreden … Wann hatte ich jemals eine Ausrede benutzt? Und warum schrie sie mich andauernd an? Ich hatte nie mit ihr geschrien! Nie! Kein einziges Mal!
Meine Wut wuchs an – sie kribbelte in meinem Bauch, beschleunigte meine Atmung, verspannte meine Muskeln.
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