Dieses dumme Gewitter würde ihn nicht mehr aufhalten! Selbst wenn eine Sturmflut über ihn hereinbrach – er würde sich bis zu Liza durchkämpfen!
Ich werde nicht mehr aufgeben!
Keine zehn Minuten musste er warten, bis es anfing zu regnen … wie aus Kübeln.
Die schweren kalten Tropfen drangen wie nichts durch sein weißes Hemd. Und ehe er sich versah, klebte das Gewand wie eine zweite Haut an seinem Leib.
Frierend und bei einem jeden Donnergrollen zusammenzuckend wie für weiteren Mut betend marschierte er über die gelblich schillernden Pflastersteine. Zierbäume mit ihren heftig flatternden Blättern beugten sich ächzend im pfeifenden Wind – das saftige Grün ein solch unwirklicher Kontrast zum dunkelgrauen wilden Himmel.
Von den Straßen stieg leichter nach Asphalt und Stein duftender Dampf. Dieser erinnerte ihn daran, wie er im zarten Alter von sechs mit seinem kleinen weißen Fahrrad nach einem jeden Gewitter auf den verlassenen Waldwegen nahe Großmutters Haus auf Entdeckungsreise gegangen war.
Mehr und mehr Pfützen bildeten sich in den verwinkelten Gassen und auf den doppelspurigen Straßen. Autos fuhren rücksichtslos und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihm vorbei, bespritzen ihn mit vom heißen Asphalt erwärmten Regenwasser.
Nachdem er mittlerweile zum fünften Mal eine kostenlose Dusche erhalten hatte, beschloss er kurzerhand, einen anderen Weg einzuschlagen. Rennend überquerte er die Hauptstraße, bog rechts ab, um sodann einer schmalen Gasse zu folgen, welche ihn zu einem großen Platz führte.
Er kannte diesen Weg aus seiner Kindheit – damals hatte seine Mutter ihn jeden Tag zur Schule gebracht und war anschließend weiter in die Arbeit gegangen.
Obgleich es eine halbe Ewigkeit zurücklag, erinnert er sich nach wie vor an Mamas aufmunternde freche Art, ihre beruhigenden Worte und das strahlende Lächeln, welches sie nie verlor. Selbst dann nicht, als er ihr verkündet hatte, Schriftsteller zu werden. Ein Job, der ihr so wenig zugesagt hatte wie Janina …
Mamas mitreißendes Naturell hatte in den darauffolgenden Jahren zwar an Kraft verloren. Ihre Sichtweise, die Welt als einen magischen Ort zu sehen, hatte sich jedoch nicht geändert, ebenso wenig wie die Tatsache, an ihren Sohn zu glauben.
Selbst jetzt – mit einem gefloppten Buch und hohen Schulden stand sie zu ihm.
…
Wann hatte er Mama das letzte Mal besucht?
Es musste mindestens drei Jahre zurückliegen …
Ein neuer Schmerz entfachte in ihm.
Das musste er ändern! Alles musste sich ändern!
Unwillkürlich quollen Tränen ihm aus den Augen, vermischten sich mit den Regentropfen auf seinem Gesicht.
So viel bedurfte einer Änderung!
Sein verschleierter Blick glitt über den Platz.
Ein paar wenige äußerst tapfere kleine Sperlinge badeten fröhlich zwitschernd in den zu Seen angewachsenen Pfützen. Dutzende sich mit bunten Schirmen gegen die Regenflut schützende Leute eilten von einem Geschäft zum nächsten. Darunter Pärchen, welche sich glücklich aneinander kuschelten, sich küssten, sich süße Worte der Liebe zuraunten … und seinen Seelenschmerz immens erhöhten.
Liza.
Er musste zu ihr.
Er wollte sie umarmen. Er würde sie umarmen – gleichgültig, ob sie ihn mochte oder nicht!
Eben gedachte er, seinen Weg fortsetzen, da veranlasste ein durchsichtiger Regenschirm ihn, innezuhalten.
…
Weiße Sandaletten.
Ein buntes im Wind wehendes Kleid.
Leicht gelockte rückenlange, goldene Haare.
…
Liza.
…
Er rieb sich die Augen.
War sie es tatsächlich? Oder spielte seine Sehnsucht ihm einen üblen Streich?
Jäh richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn …
Er erstarrte.
Meerblaue Augen … bonbonrosa Lippen … gerötete Wangen.
…
Sie war es.
Sie war es tatsächlich!
O großer Gott!
Ein Donner vermochte es, ihn aus seiner Apathie zu reißen und seine Beine in Bewegung zu setzen.
Erst langsam, dann immer schneller schritt er auf sie zu – auf dieses verloren wirkende inmitten von Gewalt und Chaos stehende Geschöpf, welches sich krampfhaft an seinem Schirm festhielt.
Und plötzlich stand er vor ihr – kein halber Meter trennte sie voneinander.
Erblickte er etwa Tränen in ihren wunderschönen Augen? Oder entstand dieser Eindruck alleinig durch die Seinigen, welche nicht mehr zu fließen aufhören wollten? Aber wahrscheinlich lag es eher an dem peitschenden, sich mit aller Macht gegen ihn stemmenden Regen.
Ein mittellautes Donnergrollen schob die unnützen Überlegungen zur Seite.
So sachte, als bestünde Liza aus kostbarem Porzellan, legte er die Hände auf ihre Kinnbögen.
Weder zuckte sie zurück noch brachte sie selbst ein Wort über ihre süßen Lippen. Sie starrte ihn bloß weiter an – derart intensiv, er vermutete, sie würde bis in seine schmerzende Seele zu blicken vermögen. Derart intensiv, es radierte ihm Wortschatz wie Verstand aus.
Sekunden wurden zu Stunden.
Schmerz wurde zu Erlösung.
Verzweiflung wurde zu Hoffnung.
Das hektische Treiben um ihn herum rückte zusehends weiter in den Hintergrund – bis er es schließlich überhaupt nicht mehr wahrnahm.
Seine Finger glitten über ihre warme zarte Haut nach hinten ins weiche Haar.
Ein Blitz zuckte über den finstren Himmel. Donner dröhnte, Adrenalin wurde ihm in die Venen gepumpt –
Ehe sein Gehirn in der Lage war, etwas Ähnliches wie das eines Gedankens hervorzubringen, hatte sein Körper längst die Kontrolle übernommen und ihn dazu veranlasst, die Lippen auf Lizas zu legen.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Wangen fühlten sich an wie glühende Kohlestücke, weitere schmerzhafte Adrenalinausstöße sowie nackte sich um ihn schlingende Panik brachten ihn zum Beben.
Liza wehrte sich nicht. Einzig ihre Finger vergruben sich in sein durchnässtes Hemd.
O Gott …
Ihre das hauchzarte Kleid durchdringende wunderbare Körperwärme brannte auf seiner kalten Haut. Solch ein betörendes Gefühl – mit nichts vergleichbar … und unwahrscheinlich hilfreich dabei, ihn wenigstens zum Teil zur Besinnung zu bringen.
…
Geschah es tatsächlich?
Konnte es wahrhaftig sein?
…
Ja … ja … er küsste sie.
Er küsste Liza!
Er küsste seine Traumfrau!
Grundgütiger!
Endlich … endlich war es so weit! Nach all den sich ewig lang anfühlenden Monaten des Leids und der Zweifel durfte er sie spüren.
Liza. Wunderschöne Liza …
Unaussprechlich behutsam – und mit ungleich heftigerem Herzklopfen – teilte er ihre Lippen mit seiner Zunge.
Ihr gesamter Leib verkrampfte sich – jedoch lediglich für den Moment eines Wimpernschlags. Alsbald dieser vorübergezogen war, gewährte sie ihm Einlass.
Und die Welt stand still.
Er spürte sie erzittern, wieder und wieder. Infolge dessen schlang er die Arme um ihren Oberkörper und presste sie gänzlich an sich.
Äußerst zaghaft berührte er ihre Zunge mit seiner, wodurch ihr zierlicher Leib sich abermals versteifte. Einen Rückzieher machte sie dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Sie drückte sich fester an ihn.
Hatte Tina etwa richtig gelegen? Empfand Liza so viel mehr für ihn?
Er verscheuchte den unwichtigen Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf seinen ersten scheuen Kuss in fünf Jahren.
Lizas süßer Geschmack berauschte ihn. Ihre hilflose Umarmung entfachte den brennenden Wunsch, sie zu schützen, sie nie mehr loszulassen – sie zu besitzen.
Solch weiche, zarte Lippen … warm, köstlich …
Prickelnde Gefühlsstürme brausten ihm durch den Leib, brachten seine Leisten zum Pulsieren und seine Seele zum Strahlen.
Sie gehörte zu ihm! Er fühlte es. Sie war ein Teil von ihm. Sie gehörten zusammen.
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