„Warum habe ich nur das dumme Gefühl, du willst mich vor dieser Welt lächerlich machen?“
„Nein, will ich nicht,“ beteuerte Annie. „im Gegenteil, ich will dich in einem besseren Licht zeigen. Stell dir mal vor, das würde der große Moderenner werden, dann wärest du doch ein Vorreiter. Das ist doch etwas, oder?“
„Eher der große Vorspinner.“ David legte seine Hände auf Annies Schulter und massierte sie sanft.
„Vorreiter, Vorspinner, egal, Hauptsache vor.“
Annie legte ihren Kopf in den Nacken und lächelte David an. Langsam senkte er seinen Kopf und küsste sie sanft. Immer fordernder erforschte er mit seiner Zunge ihren aufreizenden Mund. Annie zitterte, sie konnte nicht sagen, ob mehr vor Kälte oder vor Lust. Als David ihre Erregung bemerkte, unterbrach er den Kuss und zog sie vorsichtig aus dem Stuhl.
„Komm Annie, hier draußen ist es kalt geworden.“
Willig ließ sie sich in das warme Zimmer ziehen.
Audon war schon lange vor den anderen ins Hinterland gezogen. Immer mehr von ihnen siedelten sich in dem kleinen Tal an, weit entfernt von den großen Städten. Sie alle flüchteten, obwohl sie nie verfolgt wurden. Doch die anderen Fenrys fühlten sich in ihrer Gegenwart unwohl. Nicht nur ihre Fellfarbe war anders, sondern auch die Dinge, die sie konnten. Da die Fenrys von Natur aus friedliebende Wesen waren, wollten sie Problemen lieber aus dem Weg gehen. Audon sah, wie immer mehr von ihnen ihm folgten und er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er gehörte nach wie vor dem Hohen Rat an. Als er bei der letzten Sitzung erschienen war, hatte er ein ehrfürchtiges Staunen bei seinen Ratskollegen bemerkt und ihr Flüstern gehört. Er war sich nicht sicher, wie er damit umgehen sollte und bemühte sich daher, es zu ignorieren. Trotzdem war ihm nicht wohl bei der Sache.
„Warum sind wir so anders, Großvater?“ riss ihn die Stimme seines Enkels Beldin aus den Gedanken. Sorgenvoll betrachtete er das blaue Fell des Jungen.
„Das kann ich dir nicht sagen. Niemand kann sagen, warum wir so sind, wie wir sind. Unsere Fähigkeiten machen anderen Angst, aber sie würden uns nie etwas antun. Wir sind hierher gezogen, um herauszufinden, wie wir unsere ungewöhnlichen Fähigkeiten in den Griff bekommen können. Niemand macht es Spaß, wenn du ihm plötzlich in den Gedanken herumschnüffelst oder Gegenstände vor seiner Nase herumfliegen. Sandron kann ein Schutzschild um sich herum aufbauen und alle stoßen sich daran. Bolgen umflattern ständig kleine Feuerblitze. Zu mir kommen die anderen, wenn sie verletzt sind. Ja und du, du kannst schweben. Wohin soll das noch führen? In ihrer Güte hat die große Weisheit uns Gaben geschenkt und manch einer von uns fängt an, diese Gaben zu seinem Vorteil zu nutzen. Ich glaube nicht, dass das richtig ist. Der Zeitpunkt, an dem wir wissen, welche Aufgaben wir lösen müssen, wird kommen. So lange lernen wir und warten auf den Tag unserer Bestimmung.“
Still setzte sich Beldin neben seinen Großvater und blickte in das grüne Wasser des Sees vor ihnen. Sanfte Hügel umgaben den von blauen Wäldern umsäumten See. Bunte Grimmeln schwirrten hoch über den Bäumen auf der Suche nach Nahrung. Das Pfeifen eines Brag, ein kleiner Ball mit vier Flügeln, scheuchte eine kleine Herde Beasylts auf, die auf der anderen Seite des Sees friedlich zum trinken zusammen standen. Die Beasylts hatten gerade ihre langen Hälse, auf denen ein runder Kopf mit bunten Federn saß, in das Wasser gesenkt, als der Pfiff des Brag ertönte. Schnell sprangen sie mit ihren kurzen aber kräftigen Beinchen auf. Der Brag hatte hoch oben in den Ästen des Sringgarbaumes einen Hevinkli gesehen. Der noch recht junge Räuber hatte ebenfalls Durst und näherte sich der Wasserstelle. Mit ploppenden Geräuschen schlossen sich die Blütenblätter der Kaltiblüten, als die flüchtenden Beasylts vorbei rannten. Ihre feinen Sensoren, die dazu dienten, kleine Insekten zu fangen, spürten die Erschütterung der flüchtenden Tiere. Der Hevinkli schaute den davon sprintenden Beasylts gleichgültig hinterher. Das Blut an seiner Brust zeigte den aufmerksamen Beobachtern, dass er bereits Beute geschlagen hatte und nicht mehr hungrig war. Laut brüllte er der Herde hinterher, wie um ihnen zu sagen, dass er sich später um sie kümmern wolle, dann knickte er seine langen Vorderläufe ein und senkte seinen, mit Federn geschmückten Kopf, tief ins Wasser und trank. Immer wieder hielt er inne, um mit seinen roten Augen, die sich seitlich am länglichen Schädel befanden, die Umgebung zu beobachten. Sein blaues Fell verschmolz mit den Farben der Wälder. Die Muskeln seiner hinteren Sprungbeine blieben stets angespannt. Da er kaum größer als die etwa einen Meter hohen Beasylts war, musste er die größeren Räuber des Waldes genau so fürchten, wie die Beasylts ihn. Bald hatte der Hevinkli genug getrunken und das Blut auf seiner Brust war vom Wasser des Sees weggewaschen. Langsam stand er auf und lief wieder in den Wald hinein. Die zartrosa Kaltiblüten öffneten sich ganz vorsichtig wieder und der Brag kehrte zurück auf seinen Ausguck ganz oben auf dem Sringgarbaum.
Der zweite Mond auf Fenry war gerade angebrochen. Noch brach sich das Licht der grünen Sonne in den weißen Wolken über ihnen, als Audon und Beldin sich schweigend auf den Weg nach Hause machten. Belgan hatte bereits das Essen fertig und nach einer kurzen Danksagung an die große Weisheit aßen sie stillschweigend ihre Mahlzeiten. Belgan, Audons zweite Frau, hatte ein leuchtend gelbes Fell. Sanft kräuselten sich kleine Fellsträhnen über ihre stets Freude ausstrahlenden, grünen Augen. Audon war dankbar dafür, dass seine zweite Frau mit ihm gekommen war. Seine erste Frau konnte sein blaues Fell nicht ertragen und hatte sich einen zu ihrem orangefarbenen Fell besser passenden Mann gesucht. Audon war nach einer Nacht, die er draußen im Wald verbracht hatte, mit blauem Fell aufgewacht. Tief verstört kam er damals nach Hause und sah den Ekel in Barkas Augen, als sie ihn erblickte. Als nach einigen Wochen, in denen er sich mehreren Untersuchungen unterzog, feststand, dass er die blaue Farbe nie mehr loswerden würde, zog Barka aus und nahm die Kinder mit.
In den nachfolgenden Monaten stellte Audon fest, dass Wunden, die er sich bei der Jagd oder zu Hause zuzog, schnell heilten. Auch war ihm so, als ob er die Gedanken seiner Freunde hörte oder dass er empfand, was sie empfanden. Jahre vergingen und Audon war nun in der Lage, andere Fenrys und Lebewesen durch auflegen seiner Pfoten mit den langen Fingergliedern zu heilen. Hatte einer eine Schnittwunde, war sie plötzlich bei ihm an der gleichen Stelle zu sehen. Dort heilte sie dann. Auch Krankheiten konnte er so heilen. Immer wieder kamen auch Schwerkranke zu ihm und obwohl er wusste, welchen Schmerzen er sich mit ihrer Behandlung aussetzte, zögerte er nie und nahm die Krankheiten auf sich. Eines Tages wurde Belgan zu ihm gebracht. Sie hatte sich bei einem Sturz mehrere Knochen gebrochen und innere Verletzungen erlitten. An ihrer Heilung wäre Audon fast gestorben, doch die geheilte Belgan blieb an seiner Seite und pflegte ihn gesund. Nie zuvor hatte sich jemand darum gekümmert, wie es ihm bei der Heilung anderer erging. Er war Belgan genau so dankbar für ihre Anteilnahme, wie sie ihm für ihre Heilung. Auch seine Fellfarbe war für sie überhaupt kein Problem und bald verliebten sie sich ineinander. Das lag nun schon mehrere Jahrzehnte zurück und Audon und Belgan bereuten nie, dass sie ein Paar geworden waren. In dieser Zeit hatten nicht nur sie, sondern auch andere Paare blaufellige Kinder bekommen .
Irgendwann beschloss der Hohe Rat, dass es besser sei, wenn sich jemand dieser Kinder annehmen würde, da einige ihrer Eltern Probleme hatten, mit ihnen fertig zu werden. Audon und Belgan machten den Vorschlag, eine andere Siedlung in der Nähe des Songangebirges zu eröffnen und die problematischen Kinder mitzunehmen. Das Tal, das sie sich aussuchten, lag an einem malerischen, eiskalten See inmitten schneebedeckter Gebirgszüge. Die Wahl des Siedlungsortes stieß auf Zustimmung und wurde genehmigt. So entstand Songani, wie sie ihre neue Siedlung nach den umgebenden Bergen nannten. Dort unterrichtete Audon die Kinder darin, ihre Fähigkeiten zu beherrschen und Belgan, die zuvor schon als Lehrerin gearbeitet hatte, in allem anderen. Auch die Eltern, die weniger Probleme mit ihren außergewöhnlichen Kindern hatten, folgten bereitwillig. Der Hohe Rat und die zurückgebliebenen Fenrys aber waren froh, ein unbequemes Problem auf solch friedliche Weise gelöst zu haben.
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