Sie griff nach etwas, um sich festzuhalten, aber als das Schleusentor hinter ihr aufflog, wurde sie mitsamt der Luft ins All gerissen. Indem sie zuließ, dass das Vakuum ihren Atem aus den Lungen saugte, verlängerte sie ihr Leben um Sekunden, denn der Innendruck hätte ihre Lungen platzen lassen. Der Atmungsprozess kehrte sich um: Statt Sauerstoff ins Blut zu transportieren, gaben ihn die Lungenbläschen ab. Ihr blieben 15 Sekunden, bis das sauerstofflose Blut ihr Gehirn erreichte und sie das Bewusstsein verlieren würde. Zugleich blähte der niedrige Druck des Alls ihren Körper auf und senkte den Siedepunkt des Wassers auf unter 37°. Sie spürte, wie der Speichel auf ihrer Zunge zu kochen begann. Ihr Blut und alle Körperflüssigkeiten würden bald ebenfalls kochen, Blutgerinnsel würden die Adern verstopfen, Schlaganfälle drohten ...
Endlich schlossen sich die Energiefelder des Notpacks, das sie rein zufällig erwischt hatte, als sie sich in der Schleuse festkrallen wollte. Kurz wurde ihr noch schwarz vor Augen, dann begann ihr Körper sich zu normalisieren. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Erleichtert atmete sie einige Male tief ein und aus.
Es war vielleicht nur ein kurzes Glück, das ihr vergönnt war. Die Manövrierfähigkeit des Notpacks war auf wenige hundert Meter begrenzt und der Sauerstoff reichte nur für 10 Minuten. Verzweifelt sah sie sich um. Die Schleuse der HAPPY DELIVERY war durch die Notfallöffnung blockiert, dort kam sie nicht mehr hinein. Unterhalb des Schiffs aber glitzerte etwas im Licht der weit entfernten Sterne. Mangels Alternative beschleunigte sie in diese Richtung.
Das Schicksal musste es an diesem Tag unermesslich gut mit ihr meinen! Im Näherkommen erkannte sie den Speedster 9000 . Wenigstens war es einmal ein solcher Scooter gewesen, bevor ein Bautrupp daran herumgebastelt hatte. Nun war im Wesentlichen ein starkes Triebwerk übrig, auf dem man zwei Sättel befestigt hatte. Und das Beste an dem Gerät war der Sauerstoffvorrat, an den sie sich anstöpseln konnte.
Den Speedster hatte Anne eigentlich als Fluchtfahrzeug für ihren Mann besorgt. Aber Oliver Le Vasseurs Gefängnisausbruch war schiefgegangen und statt seiner war dieses Monster mit dem Gefährt angekommen, das sie aus der Schleuse geworfen hatte.
Was konnte sie als nächstes tun? Sollte sie an Bord der DELIVERY zurückkehren und das Monster bekämpfen? Anne war sich nicht sicher, ob eine Revanche vorteilhafter für sie enden würde. Besser, sie suchte sich Verbündete. Und um die Verbündeten zu überzeugen, musste sie wissen, was mit ihrem Mann geschehen war.
Ihr Vertrauter Benito de Soto hatte herausgefunden, dass ihr Mann auf der Krankenstation der Gefängnisfregatte BLACK JOKE versorgt wurde. Queen Anne machte sich dorthin auf den Weg und landete den Speedster in einem Hangar. An Bord des Gefängnisschiffes hatte der Widerstand gegen Admiral La Buse mehr Unterstützer, als dieser wahrhaben wollte. Eine Angestellte, die ihr oberflächlich ähnlich sah und zum Widerstand gehörte, lieh ihr ihren Bordausweis, und so gelangte die Queen unbehelligt zur Krankenstation.
*
„Bist du verrückt?“, schimpfte Oliver Le Vasseur. „Warum kommst du hierher? Du weißt doch, dass ich bei meinem Onkel in Ungnade gefallen bin! Wenn er erfährt, dass du hier bist, wird er dir die Garde auf den Hals hetzen!“
„Ich muss wissen, was mit dir passiert ist! Dein Kumpel Omega hat mich aus einer Luftschleuse geschmissen – ohne Raumanzug!“
„Zur Hölle mit dem Mistkerl! Mich hat er den Wachen vor die Füße gestoßen, während sie mit ihren HM-6 auf uns feuerten. Und dabei hat er mir noch mein Amulett abgerissen!“
„Ist er ein Agent deines Onkels?“
„Ich glaube nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Ziele das Arschloch verfolgt.“
„Wir sollten jetzt abhauen!“ Queen Anne hielt Oliver die Hand hin, um ihn aus dem Bett zu ziehen.
„Vergiss es!“, zischte Oliver und zog die Decke zurück.
Anne schlug schockiert die Hände vor den Mund: Oliver Le Vasseur hatte nur noch ein Bein!
„Bevor ich fliehen kann“, sagte er, „brauche ich eine Prothese. Geh bitte!“
„Nicht ohne dich!“
„Doch, es muss sein!“
„Ich kann dich nicht hier liegen lassen! Was, wenn dein Onkel dich umbringen will?“
„Dann läge ich nicht auf der Krankenstation, sondern im Krematorium. Und jetzt geh bitte und mach das Monster fertig!“
„Das kann warten!“
„Nein, kann es nicht. Wir können nicht an zwei Fronten kämpfen, gegen Omega und meinen Onkel. Also zeig‘s dem Arschloch. Tu es für mich! Sprich mit Benito, der wird dir helfen!“
„Ich …“ Queen Anne kamen die Tränen. Würde sie ihren Mann jemals wiedersehen? Aber da er es so wollte, riss sie sich los und schlich zurück Hangar, in dem sie den Speedster geparkt hatte.
*
Als Benito de Soto die Tür seiner Kajüte öffnete, fühlte er sich unwohl. Der Space Explosion V3 , den er kurz zuvor an der Bar zu sich genommen hatte, schien ihm nicht zu bekommen. In seinem Magen braute sich eine Space Explosion zusammen.
Während er den Raum betrat, wurde das Licht hochgedimmt.
Er war nicht allein.
Im Wohnbereich seiner Kabine stand ein bequemer Sessel und in dem Sessel saß …
„Queen Anne! Du lebst!“
„Ja, ich lebe noch. Dieser verdammte Roboter hat mich aus einer Schleuse gestoßen – ohne Raumanzug. Zum Glück habe ich gerade noch ein Notpack erwischt.“
De Sotos Magen krampfte sich zusammen. Er stützte sich an der Wand ab.
„Was ist los, Benito?“
„Mir ist schlecht … Ich habe einen Drink nicht vertragen. Oder vielleicht waren es auch zwei. Ich war frustriert! Omega hat die Offiziere überzeugt, die LIBERTY zu entern. Er hat ihnen das Amulett deines Mannes unter die Nase gehalten, um sich zu legitimieren.“
„Das hat er meinem Mann gestohlen!“
„Dachte ich mir. Aber niemand hat auf mich gehört! Er hat eine begeisternde Rede gehalten und sie alle auf seine Seite gezogen! Wir müssen unbedingt ...“ De Soto biss die Zähne zusammen, um eine Schmerzwelle auszuhalten.
„Was für ein Drink könnte so eine verheerende Wirkung habe? Sag mir, was du getrunken hast!“
„Zwei Space Explosion V3 .“
„Das ist natürlich pures Gift.“
Sie schwiegen.
Und rissen entsetzt die Augen auf, als ihnen gleichzeitig klar wurde, dass es sich nicht nur um Gift im übertragenen Sinn handeln konnte.
„Das Schwein hat dich vergiftet! Wir müssen sofort in die Krankenstation!“
De Soto hob abwehrend die Hand. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er spürte etwas Kaltes, das sich in ihm ausbreitete und den unerträglichen Schmerz gnädig gefror. „Zu spät“, sagte er. „Geh und lass mich sterben! Bring dich in Sicherheit!“
„Den Teufel werde ich tun! Dafür wird der Mistkerl bezahlen. Ich bringe ihn um! Ich foltere ihn zu Tode!“
„Lass das bleiben, Anne! Du hast hier keine Verbündeten mehr. Geh zu den Bautrupps, die hat Omega noch nicht auf sich eingeschworen!“
Benito de Soto starb in ihren Armen.
*
Queen Anne verließ den inneren Zirkel der Piratenflotte. Ihr Speedster rauschte am letzten funktionstüchtigen Schiff vorbei und erreichte die Zone, in der viertel-, halb, und fast fertige Schiffe nebeneinander dümpelten. Überall sah man die Funken der Schweißgeräte, mit denen Löcher in den Hüllen geflickt oder zusätzliche Waffen angeflanscht wurden. Sie entschloss sich, im Hangar der BACHELOR´S DELIGHT zu landen. Das Schiff schien fast fertiggestellt. Arbeiter wiesen ihr den Weg zum Leiter des Bautrupps. Sie fand ihn auf der Brücke.
„Queen Anne!“, wurde sie von Henrik Morgan begrüßt. „Willkommen an Bord!“
„Danke, Henrik. Wir müssen reden. Habt ihr schon einen Konferenzraum fertig, wo wir ungestört sind?“
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