Vor Jahren hatte ein Tengelmann ein paar Ecken und einige hundert Meter entfernt eröffnet. Seitdem kauften dort die Eiligen ein, die Essen in Dosen-, die Fertigpizza- und die Billigbier-Käufer…
Hier im Laden, hier gibt es im Herbst dagegen noch „richtige“ Boskop-Äpfel mit rauer Haut, hart und richtig sauer! Oder drei verschieden fest kochende Kartoffelsorten, alle persönlich ausprobiert und für gut befunden von Frau Z., die Wurst schmeckt herzhaft und die stets frisch gemachten Pflanzl (Frikadellen) sind natürlich aus von Herrn F. persönlich entfettetem und selbst durch den Wolf gedrehtem Kalbfleisch und den Essig, den es hier gibt, den muss man einfach probiert haben...
Hier geben die diversen Paketdienste die Pakete für diejenigen im Quartier ab, die tagsüber nicht zuhause waren – da kommen dann auch die Jungen, um ihre Amazon-, Ebay- und Zalando-Sendungen im Laden zu holen. Immer eilig, meist nicht gut drauf und nie in der Stimmung für einen noch so kurzen Ratsch – demzufolge eine durch und durch enttäuschende Kundschaft …
Wer regelmäßig seine Zeitung im Laden kauft, für den wird sie (ungefragt) auch bis abends um sechs aufgehoben und wird keinesfalls vorher verkauft... Kurz, hier im Laden ist Leben, das richtige Leben, nämlich Leben wie früher! Für die Älteren unter den alten Kunden daher das einzig richtige Leben
Und falls ein Kunde – unabgemeldet! – ein paar Tage zu viel nicht in den Laden kommt, geht Frau Z. schon mal „nachschauen“. Das hat dann gar nichts mit Neugierde zu tun, das ist positive soziale Nahkontrolle.
Ab und zu stirbt eine oder einer von den Alten. Dann steht eine Sammelbüchse auf dem Verkaufstresen. Handgeschrieben liegt ein Zettel mit dem Hinweis daneben: „Für einen Kranz“ – und kaum jemand geht aus dem Laden, der oder die nicht ein Scherflein beiträgt, schließlich will „man“ auch einen Kranz haben, wenn es dann einmal soweit sein sollte…
Die mz 1hatte natürlich berichtet: Der Mord war der Aufmacher des Tages. Natürlich war die Zeit zu knapp gewesen, um einen langen Bericht zu schreiben – aber für ein Agentur-Foto der Salvatorkirche mit einem schnell hinein gezeichneten Kreuz, wo die Toten gefunden worden waren (Photoshop sei Dank!) und eine Balkenüberschrift „Doppelmord in München“ hatte es gerade noch gereicht! Die Textinformation war eher dürftig: Berühmter Münchener Professor, wohnhaft im Stadtteil Harlaching, Mitglied der Society und (natürlich) der CSU mit Unbekannter gegen Mitternacht von Unbekannten hinter der Salvatorkirche erschossen. Die Polizei bittet eventuelle Zeugen, sich zu melden.
Der Bayerische Rundfunk berichtete in seinen aktuellen Sendern fast stündlich von der „rätselhaften Tat“, blieb aber weitgehend nahe an den Fakten, die aber dünn gesät waren.
Die „Privaten“ setzten sich journalistisch gekonnt ab und sprachen vom „ruchlosen Mord“! Auf ihren Websites zeigten sie stündlich wechselnd andere Agenturfotos vom Salvatorplatz als die mz.
Getragen intonierende Moderatoren versuchten eifrig, die Sensation am Kochen zu halten (sie hatten ja sonst nichts, über was sie schwadronieren konnten), indem sie eine ehemalige Haushälterin des berühmten Professors und verschiedene Ex-Arbeitskollegen des Emeritierten telefonisch interviewten...
Der akademische und menschliche Schleim, den sie dabei absonderten, hätte auf der Slip einer Werft locker für den Stapellauf eines mittelgroßen Schiffes gereicht.
Für diese journalistischen Glanzleistungen wurden sogar die ewig dudelnden „Oldies aus den 80ern und 90ern“ unterbrochen… Einer der Sender hatte ein „Reportage Team live vor Ort“, das befragte in halbstündigem Rhythmus Passanten, ob sie denn das unsägliche Grauen, das negative Kraftfeld, das von diesem Ort ausging, spüren würden – da die meisten Leute kopfschüttelnd am vor die Nase hingehaltenen Mikrofon vorbeigingen, wurden keine Liveberichte sondern ausgewählt „betroffene“ Tonkonserven gesendet – mit ein paar Tränen oder mit erstickter Stimme hervorgebrachte Betroffenheit sollte schon sein…
Immer wieder ging das folgende Interview mit einer offenbar älteren Dame über den glücklichen Sender, der diese Interviewpartnerin aufgetan hatte:
Frage (Betroffenheit in der zitternden Stimme der Interviewerin): „Was sagen sie denn..., also spüren Sie denn das Grauen, das über dem Ort des tragischen Geschehens liegt…?“
Antwort: „Ja, der Professor…“, und dann nur noch Schluchzen.
Frage: „Kannten sie ihn denn?“
Antwort: „Ja, natürlich... (Schluchzen)“
Frage (erfreute Spannung): „Sie waren also eine Bekannte von ihm?“
Antwort (durch ein vor den Mund gehaltenes Taschentuch kaum verständlich): „Nein, natürlich nicht persönlich, das war ja ein richtiger Professor, wissen Sie – aber man kennt ihn ja, aus den Zeitung halt … (Schluchzen), „das ist ja so tragisch… der arme Mann… und dann die arme Ehefrau…“. Ende des Interviews.
Moderator aus dem Studio: „Münchens Bevölkerung ist tief betroffen von diesem ruchlosen Mord. Wir fragen, was man fragen muss: Wer hat den Professor erschossen und warum?
Sie erwarten Antworten? Dann bleiben sie auf diesem Sender, wir berichten alle 15 Minuten live vom Tatort an der Salvatorkirche, wo inzwischen viele Menschen ihrem Mitgefühl mit den Hinterbliebenen mit niedergelegten Blumen und Kerzen Ausdruck geben.
Um 13.00 Uhr steht der Pressesprecher der Münchner Kriminalpolizei unserer Reporterin exklusiv für Fragen zur Verfügung. Unter der kostenfreien Telefonnummer 01805-99 99 99 100 können sie uns Ihre Fragen auf Band sprechen, die wir dann exklusiv an den Pressesprecher weiterreichen werden. Und gleich nach nur einem Werbespot ein echter Superhit in voller Länge aus den 60ern: Surfin Safari von den Beach Boys. Also, stay tuned oder: Bleiben sie dran!“
Kurz, alle redeten vom berühmten Wissenschaftler, niemand sprach über das andere Opfer, unsere Hannelore.
Als Herr F. das oder ähnliches zum x-ten Male im Radio gehört hatte, meinte er beim Verteilen der täglichen Mittagessen-Bestellungen: “Also, wenn die das Interview nicht tatsächlich aufgenommen hätten, dann müsste man so etwas erfinden…!“
„Ich weiß gar nicht was sie immer wollen“, sagte Frau Plüschke, die gerade reingekommen war, „also ich finde das absolut tragisch, er war so ein gut aussehender Man!
Und ich weiß auch nicht, wieso ausgerechnet die Hannelore da war? Was hatte die da zu suchen, um die Zeit? Das ist da doch stockdunkel, wo das war, also der Mord, oder fast stockdunkel. So spät am Abend ist die doch sonst nie rausgegangen.“
Im Laden war Hannelores Tat natürlich „das Thema“! Jeder kannte sie hier, zumindest ein bisschen… niemand kannte den „großkopferten“ Herrn Professor Doktor Doktor 2... Man war sich vor der Ladentheke einig, die Zeitungen logen eh bei dem bisschen, was sie heute schon berichten konnten.
Hier im Laden vermuteten einige, dass Hannelore den Mann erschossen hatte... sie hätte sich doch am Nachmittag des Vortrages ihres Todes von Frau Z. weinend verabschiedet... Schnell war man sich einig, Hannelore war es gewesen... eine Pistole hätte sie sicher von ihrem Vater gehabt, der sei doch bei den Nazis so ein Bonze gewesen, und dann noch bei der Bundeswehr, mindestens hoher Offizier... na und wenn schon, Hannelore würde schon ihre Gründe gehabt haben und die konnten alle verstehen, auch wenn sie sie nicht kannten… Aber so etwas macht man ja nicht ohne Grund, oder? Und wenn doch, sie war schließlich eine von uns…
Die mz hatte endlich herausbekommen, wer die Tote war: Hannelore! Von irgendwoher hatte die Redaktion Fotos von ihr aufgetan. Die Polizei hatte inzwischen Hannelores Fingerabdrücke auf der Waffe gefunden. Von nun an war sie „Die alte Mörderin“, „Die Seniorkillerin“ oder in der mz „Die alte Irre aus dem Neuhausen“!
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